Choral des Todes
traditionelle bayerische Tracht. Die Mitglieder dieser Vereinigung dürfen weder bestimmte Materialien anfassen noch moderne Geräte benutzen.«
Kasdan dachte an die Aussage des alten Mannes in der Nähe der Kirche Saint-Augustin. Kinder mit grünen Filzhüten, Lederhosen und großen Schuhen aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Fakten stimmten überein. Ein alter Drecksack, ein Nazi und Mystiker zugleich, der bestimmt schon seit Jahren tot war, hatte durch Zeit und Raum hindurch kleine indoktrinierte Mörder nach Paris geschickt.
»Wann ist Hartmann nach Chile gegangen?«
»Im Jahre 1962. Er hatte irgendwelche Schwierigkeiten in Berlin. Es war von Pädophilie die Rede, aber der Vorwurf scheint unbegründet gewesen zu sein. Anderen Gerüchten zufolge ging es sich um körperliche Misshandlungen und Freiheitsberaubung Minderjähriger, und das schien der Wahrheit viel näher zu kommen. Hartmanns Glaube beruhte auf Strafe und Züchtigung. Der einzige Weg, um Gnade zu erlangen und mit Christus zu verschmelzen, ist das Leiden. Im Grunde ist das nichts Neues. Aber Hartmann schien mit diesem Glaubensbekenntnis sehr weit zu gehen. Die Kinder – ›seine‹ Kinder, wie er sagte – durften nicht jeden Tag lachen.«
Klicken der Dia-Magazinführung. Ein Gruppenbild. In der ersten Reihe blonde Kinder ohne Hüte, aber mit der typischen bayerischen Lederhose. In der zweiten Reihe junge, kräftig aussehende Männer und Frauen in weißen Hemden und Leinenhosen. Rechts Hartmann, aufrecht wie ein Lehrer. Groß und schlank, immer noch mit dichtem, schwarzem Haar und seiner kleinen, runden Brille.
»Sehen Sie, wie frisch Hartmann aussieht? Wie ein Animateur, der einen Ausflug mit seiner Gruppe macht. Statt eines Ausflugs ist es aber eine Höllenfahrt, die er vorbereitet. Der Guru hat vor der Abreise seine Schützlinge selektiert.«
»Wollte er eine arische Gemeinschaft gründen?«
»Nicht in genetischer Hinsicht. Auch wenn man sagt, dass Hartmann die Geburten in seiner Gruppe immer kontrolliert hat.«
»Wie?«
»Er bestimmte die Paare. Er suchte den Mann und die Frau aus, die den Bund schließen durften. Aber diese Selektion war nicht das Wesentliche seines ›Werkes‹. Er arbeitete vielmehr an einer geistigen Veränderung. Eine Metamorphose, die über den Glauben und die Strafe erfolgte. Es handelte sich nicht um Eugenik. Auch wenn er sich in Chile zunehmend mit Ärzten und Fachleuten umgeben hat.«
Kasdan dachte an die verrückten Chirurgen, die Peter Hansen gefoltert hatten. Hartmann war zweifellos mit in die Sache verwickelt. All das war vielleicht sogar unter Beihilfe seiner Gruppe passiert.
»Wo hat sich Hartmann in Chile niedergelassen?«
»Im Süden, etwa sechshundert Kilometer von Santiago entfernt, zwischen der Stadt Temuco und der argentinischen Grenze. Die damaligen Behörden haben ihm den besonderen Status einer ›karitativen Vereinigung‹ zuerkannt und ihm jungfräulichen Boden zur Verfügung gestellt. Tausende von Hektar im Andenvorland. Die stillschweigende Vereinbarung lautete: ›Bringen Sie Leben in diese verschlafene Gegend, und wir lassen Sie in Ruhe.‹ Hartmann hat seinen Vertrag eingehalten. Über alle Maßen. Die disziplinierten Arier haben dort wahre Wunder vollbracht.«
Neues Bild. Luftaufnahme eines riesigen landwirtschaftlichen Betriebs. In rechteckige und rautenförmige Parzellen aufgeteilte Felder am Fuße der Anden, wie Stoffbahnen. Holzhäuser, Wiesen und Flüsse. Die Landschaft einer Modelleisenbahn.
»Binnen weniger Jahre ist die deutsche Enklave die wohlhabendste Region Chiles geworden. Eine blühende Landwirtschaft. Eine intensive Bodenbewirtschaftung. Niemand hatte in Chile bisher etwas Ähnliches gesehen. Zu diesem Zeitpunkt hat Hartmann das Land gekauft. Er hat einen Zaun errichtet und seine Farm in eine Burg ohne Zugbrücke verwandelt. Sein Mustergut nannte er Asunción . Als Hommage an eine Gruppe spanischer Missionare, die im 16. Jahrhundert von dort aus aufbrachen, um das indianische Volk der Guarani in Brasilien zu bekehren. Der Name bezieht sich auf die Aufnahme Marias in den Himmel, aber im Laufe der Jahre haben sich die Regale der chilenischen Supermärkte mit Asunción-Erzeugnissen gefüllt. Hinter der freundlichen Fassade einer blühenden Siedlung verbarg sich aber das Antlitz des Bösen.«
»Quälte er die Kinder?«
»Er sprach eher von ›dem Wesentlichen‹, von ›Reinigung‹, von ›Beherrschung des Schmerzes‹. All das hatte etwas von einer komplexen Entwicklung. Das
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