Choral des Todes
ein regelrechtes Offenbarungserlebnis. Genaueres weiß man nicht darüber. Nach seiner Rückkehr betrachtet er sich nicht mehr als Musiker, auch nicht mehr als Musikwissenschaftler, sondern als Forscher. Er befasst sich nun mit den Klängen, den Schwingungen, der menschlichen Stimme.«
»Wann ist die Expedition zurückgekehrt?«
»1940.«
Ein neues Bild. Baracken. Aufseher. Gespenster in Häftlingskleidung. Ein Konzentrationslager.
»Hartmann hat nicht die Zeit, sich in seine Forschungen zu stürzen. Es ist Krieg, und der junge Mann, der immer der Macht nahesteht, wird als Berater in die Lager geschickt.«
»Wofür?«
»Für die musikalischen Aktivitäten der Häftlinge. Eine weitere fixe Idee der Nazis: die Musik. Sie setzten sie überall ein. Wenn die Deportierten aus den Todeszügen ausstiegen, wurden sie von einer Blaskapelle empfangen. Wenn sie arbeiteten, mussten sie singen. Es wurde auch mit Musik gefoltert. Im Osten erfolgten Massenhinrichtungen der jüdischen Zivilbevölkerung mit musikalischer Untermalung über Lautsprecher. Das ist zweifellos das, was man ›deutsche Seele‹ nennt.«
Kasdan dachte an die Worte des verstümmelten Peter Hansen über den Chor, der die chirurgischen Eingriffe begleitete. Und an die Aussage von Condeau-Marie: Hartmanns Vorschlag, Musik und Folter in Verbindung zu bringen. All das hatte seine Wurzeln in dem nationalsozialistischen Grauen.
Bokobza bediente wieder den Projektor. Ein anderes Lager.
»Hartmann war zuerst in Theresienstadt. Haben Sie von diesem Lager gehört?«
»Ja. Aber ich habe nichts gegen eine Auffrischung meiner Kenntnisse.«
»Das KZ Theresienstadt in der von den Deutschen zerschlagenen Tschechoslowakei war eine der widerlichsten Lügen der Nazis. Es war ein ›Vorzeigelager‹, das sie auch den Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes und den Diplomaten vorführten, um ihnen weiszumachen, dass alle KZ s nach dem Vorbild dieser ›Judensiedlung‹ organisiert waren. Kulturelle Tätigkeiten, keine schwere Arbeit. Das Lager Theresienstadt ist berühmt, weil zu seinen Häftlingen bedeutende jüdische Künstler gehörten. Einige Komponisten haben dort Meisterwerke verfasst. Der französische Dichter Robert Desnos ist dort gestorben. In Wirklichkeit aber war Theresienstadt die letzte Station vor Auschwitz. Übrigens ist Hartmann anschließend nach Auschwitz gegangen.«
»Wusste er über die Menschenvernichtung in den Lagern Bescheid?«
Der junge Forscher lachte düster.
»Er hat sie aus nächster Nähe miterlebt. Die echten Duschen vor den vorgetäuschten, um die Hautporen zu weiten und das Gas besser einströmen zu lassen. Die Leichen, die zehn Minuten später durch eine Falltür hinausbefördert wurden, um verbrannt zu werden. Die Babys, die, an der Mutterbrust trinkend, manchmal das tödliche Gas überlebten und dann mit einem Kopfschuss hingerichtet wurden.«
Unvermittelt schob Bokobza ein neues Dia ein. Menschenasche rann aus Öfen, die wie Särge aussahen.
»Die aus Zeit- und Platzmangel lebendig verbrannten oder begrabenen Kinder.«
Der Israeli bediente den Diaprojektor mit kaum verhohlener Wut. Seine Stimme wurde immer härter:
»Die Tausende von Körpern, die auf die Lastwagen aufgeladen wurden, die zu den Massengräbern fuhren! Die abgeschnittenen Haare der Leichen, mit denen Teppichböden für die deutschen U-Boote hergestellt werden sollten.«
Erneutes Klicken, erneutes Grauen. Die Szenen, die dem menschlichen Geschlecht für immer Schande bereitet haben. Die sogenannten ›Nacht-und-Nebel-Aktionen‹, die an Bilder von Hieronymus Bosch erinnern. Berge von Leichen oder Knochen, die von Baggern geschoben, herumgewälzt, zermahlen und zu weißlichen Hügeln menschlicher Überreste zusammengeschoben werden.
»Was hat Hartmann während dieser … Aktivitäten getan?«
»Er ist zum SS -Hauptsturmführer befördert worden. Er hat keine eigentliche Verantwortung – ich meine, bei der Vernichtung. Er versieht eigentlich zwei Ämter. Er ist zuständig für die Blaskapellen, die Chöre, die Orchester und betreibt zugleich seine privaten Forschungen.«
»Was für Forschungen?«
»Wir sind im Besitz eigenhändiger Aufzeichnungen von ihm. Verworrenes Zeug. Hartmann studierte die menschliche Stimme, die Schreie, die akustischen Schwingungen des Leidens. Er analysierte die Wirkung der Laute auf die Welt der Materie und auf das menschliche Gehirn. Das, was er die ›Kräfte und Turbulenzen der Schallwellen‹ nannte.«
Bokobza ging zu
Weitere Kostenlose Bücher