Choral des Todes
einem anderen Dia über: Hartmann, der mit Kopfhörer vor einem großen Rad am Schreibtisch sitzt und in die Kamera blickt.
»Gab es damals bereits Tonbandgeräte?«
»Die ersten sind von den Deutschen erfunden und dann von den Nazis benutzt worden. Hitler machte gerne von dieser Technik Gebrauch. All seine Radioansprachen sind vorher aufgezeichnet worden, um einem Attentat im Rundfunkstudio vorzubeugen. Niemand hat je Verdacht geschöpft.«
Der Armenier betrachtete den Musikwissenschaftler in Uniform. Fiebriger Blick, angedeutetes Lächeln, knochige Hände, die auf dem Gerät lagen, als handle es sich um einen Schatz …
»Nahm er die Konzerte der Häftlinge auf?«
»Nein. Er nahm die Schreckensschreie der Deportierten auf. Er hatte Mikrofone in den Fluren vor den Duschen und in den Vivisektionssälen angebracht. Seine Mitarbeiter gingen mit dem Mikrofon in der Hand hinter den Häftlingen her, die lebend in die Öfen hineingeworfen wurden. Ich weiß nicht, was er aus diesen Schreien schloss. Aber ich kann mir gut vorstellen, wie er sich Notizen machte, wenn er, völlig unbeteiligt, die Bänder abhörte. In dieser Hinsicht ist Hartmann ein echter Nazi. Er teilte mit den anderen die radikale Gleichgültigkeit gegenüber den Qualen, die die Opfer ertragen mussten. Statt des Gewissens hatte er wohl ein schwarzes Loch. Sie haben bestimmt Bilder von den Nürnberger Prozessen gesehen. Diese Typen schienen völlig normal zu sein, aber in Wirklichkeit war ihre Seele verkümmert, verdorben, monströs. Ihnen fehlte das menschliche Mitleid. Die Moral. Ihnen fehlte das, was den Menschen ausmacht.«
Kasdan betrachtete auf der Leinwand noch immer den asketisch wirkenden Mann mit dem Aussehen eines Intellektuellen und den Augen eines Wahnsinnigen. Er stellte sich ihn mitten in der Hölle vor, wie er sich nur um seine Aufzeichnungen und die Tonqualität seiner Bandaufnahmen kümmerte. Ja. Sein Gesicht troff von Gleichgültigkeit.
»Wurde Hartmann bei Kriegsende verhaftet?«
»Nein. Er ist verschwunden. Hat sich in Luft aufgelöst.«
Neues Dia. Berlin in Trümmern.
»1947 taucht er in der zerstörten Stadt wieder auf und wird von der amerikanischen Militärpolizei in der unmittelbaren Umgebung der Siedlung ›Onkel Toms Hütte‹ verhaftet. In der amerikanischen Besatzungszone.«
Berge von Bauschutt vor den zerstörten Häusern. Rinnsteine voller Staub. Von der Sonne verbrannte Reisighaufen. Abgezehrte Passanten mit gequältem Blick, die etwas zu essen zu suchen scheinen. Das in Sektoren aufgeteilte Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit. Eine von Lepra heimgesuchte Stadt, zerfressen von ihren Geschwüren.
»Es liegen uns keine Fotos von Hartmann aus jener Zeit vor, aber im amerikanischen Bericht wird er als Schwachsinniger dargestellt. Als ein mystischer Clochard, ein Prediger, von Dreck starrend. Sein Gesundheitszustand ist kritisch. Mangelernährung. Dehydrierung. Frostbeulen an den Füßen. Und auch Spuren von Peitschenschlägen am ganzen Körper. Beim Anblick dieser Narben waren die Amerikaner fassungslos. Hartmann schien gefoltert worden zu sein. Aber von wem? Der Musiker hat sich nicht darüber ausgelassen. ›Persönliche Behandlung‹, hat er beim Verhör erklärt. Er sprach Englisch, im Unterschied zu den in Nürnberg von den Psychiatern befragten Nazi-Verbrechern. Es ist mir gelungen, eine Bandaufzeichnung zu bekommen. Ich werde Ihnen eine Kopie davon geben. Ziemlich beeindruckend.«
»Inwiefern?«
»Sie werden es selbst feststellen.«
Der Armenier betrachtete die grauen Ruinen. Mauerreste, die im Nichts aufragten. Höhlen, Risse, die großen, weißen Augen glichen – zerplatzten Augen.
Neues Dia.
Dieselbe Stadt, im Wiederaufbau.
»1955. Berlin ersteht aus der Asche. Auch Hartmann wird wiedergeboren. Er ist gar nicht so verrückt. Im ›Berlin der Stunde null‹ hat der Musikwissenschaftler mittels schwärmerischer Reden eine Art Gruppe um sich versammelt. Frauen, Männer und vor allem Kinder. In Berlin wimmelt es von Waisenkindern. Diese Schar schließt sich zu einer parareligiösen Gemeinschaft zusammen.«
»Einer Sekte?«
»Einer Art Sekte, ja. Sie treffen sich in einem Raum in der sowjetischen Besatzungszone. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie sich mit verschiedenen Tätigkeiten, vor allem mit Nähen. Sie singen auf der Straße. Sie betteln. Man weiß sehr wenig über die von Hartmann propagierte Religion. Sie scheint sehr … konservativ zu sein.«
»Inwiefern?«
»Die Kinder tragen die
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