Choral des Todes
Leiden selbst sollte überwunden werden. Der gequälte Körper wurde für die Seele eine Art Medium, um stärker zu werden und näher zu Gott zu gelangen. Das stellte Hartmann seiner Gemeinschaft, die bald La Colonia genannt wurde, in Aussicht. Eine Wiedergeburt des Geistes durch das Fleisch.«
Kasdan betrachtete immer noch die Luftaufnahme der Enklave. Konnte es sein, dass der heutige Albtraum von jener sattgrünen, fruchtbaren Ebene ausgegangen war?
»Meinen Informationen zufolge«, sagte der Armenier, »war Hartmann an den Folterungen von Pinochets Regime beteiligt.«
»Sicher. Er war ein Fachmann auf diesem Gebiet. Er kannte die verschiedenen Methoden. Und auch ihre Wirkungen, weil er und seine Kinder sich selbst grausam misshandelten. Gleich nach dem Putsch wurde die Kolonie zu einer effizienten Haftanstalt. Zu einer Operationsbasis des chilenischen Geheimdienstes DINA . Sie stand Tag und Nacht über Funk mit Santiago in Verbindung.«
»Wie konnte ein religiös gesinnter Mensch den Militärs Beistand leisten?«
»Hartmann war die Militärjunta völlig gleichgültig. Er wollte die Seele der Linken erlösen. Der Verirrten. Der Sünder. Er reinigte sie durch das Leiden. Andererseits betrachtete Hartmann sich als Wissenschaftler. Er erforschte die Schmerzzonen, die Grenzen dessen, was ein Mensch ertrug. Die politischen Häftlinge waren für ihn ideale Versuchskaninchen. Prosaischer ausgedrückt: Der Deutsche wusste, dass er sich die völlige Immunität und zahlreiche Subventionen sicherte, wenn er den Generälen eine Gefälligkeit erwies. Er hatte sogar die Genehmigung für den Abbau von Titan, Molybdän und seltenen Metallen erhalten, die in der Waffenindustrie verwendet werden. Und selbstverständlich auch für die Gewinnung von Gold.«
»In den achtziger Jahren begann es für die chilenischen Folterer ungemütlich zu werden.«
»Hartmann bildete da keine Ausnahme. In der Colonia waren mehrere Häftlinge verschwunden. Es wurden Klagen gegen die Sekte erhoben. Einige Bauernfamilien haben sogar die Gemeinschaft wegen Entführung und Freiheitsberaubung Minderjähriger angezeigt. Wie zuvor in Deutschland. Man muss Hartmanns System verstehen. Er hatte ein kostenfreies Krankenhaus und Schulen bauen lassen, Freizeitzentren eingerichtet. Die Dorfbewohner vertrauten ihm ihre Kinder an, damit sie die Anbaumethoden, agronomische Grundkenntnisse, all diese Dinge erlernten. Aber wenn die Eltern ihre Sprösslinge wieder zurückhaben wollten, war es eine andere Sache. Hartmann hatte unumschränkte Macht in diesem rückständigen Gebiet. Er war eine Art Gilles de Rais, der über seine Leibeigenen herrschte. Übrigens war sein Spitzname El Ogro .«
»El Ogro?«
»Oder auf Deutsch: Der Oger . Ein allwissender, allgegenwärtiger Blaubart.«
Der Armenier musste an Volokine denken. Der Junge hatte also wieder recht gehabt.
»Haben Sie noch weitere Fotos?«
»Nein. Niemand hat je Zutritt zur Comunidad gehabt. Das heißt: keiner, der nicht zu der Sekte gehörte. Es gab ein öffentliches Areal – das Krankenhaus, die Schulen, das Konservatorium, das Landwirtschaftszentrum. Der Rest war verbotenes Gelände. Wachen. Hunde. Kameras. Hartmann verfügte über die finanziellen Mittel, um sich das Beste auf dem Gebiet der Sicherheit leisten zu können.«
»Was ist dann passiert?«
»Als die Klagen zunahmen, ist Hartmann wieder mal mit seiner ›Familie‹ verschwunden. Vorher haben sie ein Netzwerk von Tarngesellschaften gegründet, um ihr Geld zu retten und der Zerschlagung ihrer Organisation vorzubeugen. Dann sind sie geflohen.«
»Wohin haben sie sich abgesetzt?«
»Keine Ahnung. Man weiß nicht einmal, ob der Deutsche zu jenem Zeitpunkt noch lebte. Ich habe mehrere Journalisten der Nación , einer der wichtigen Zeitungen von Santiago, befragt. Man hat mir viel erzählt. Man hat mir gesagt, Hartmann habe seit langer Zeit die Colonia verlassen und sie aus der Ferne geleitet. Oder dass er Ende der achtziger Jahre in der Karibik Zuflucht gesucht habe. Es wurde auch behauptet, er sei noch an Ort und Stelle und lebe in dem unterirdischen Gewölbe, wo die chilenischen Gefangenen gefoltert worden waren. Die Wahrheit lässt sich wohl nicht mehr herausfinden.«
»Glauben Sie, dass Hans-Werner Hartmann gestorben ist?«
»Zweifellos. Er wäre heute über neunzig Jahre alt. Schließlich ist das nicht so wichtig. Er hat Schüler. Meines Wissens gibt es sogar einen Sohn, der wohl seine Nachfolge angetreten hat.«
Kasdan beschloss, die
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