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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Kinder.
    Stimmen, von denen sich der »Menschenfresser« auf die eine oder andere Weise »ernährte«.
    Volokine stellte sich plötzlich ein menschliches Instrument vor, eine Orgel, bei der jede Pfeife eine zarte, kostbare Kinderkehle war. Um welches Werk zu spielen? Um welches Ziel zu erreichen? Seine Vision verwandelte sich in einen Albtraum. Er sah geschlagene, gefolterte Kinder, deren Schreie das Register des unheilvollen Instruments ausmachten.
    Der Russe spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Beim Gedanken an diese verschwundenen Kinder drehte sich ihm der Magen um. Er glaubte nicht mehr an Pädophilie als Tatmotiv. Auch nicht an eine Perversion, die etwas mit den Stimmen der Kinder zu tun hatte. Nein. Es war etwas anderes. Ein Werk. Ein Experiment. Ein Vorhaben, das unschuldige Stimmen verlangte. Und Leid. Unermessliches Leid …
    Seine Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung, dass Kinder Rache geübt hatten, ließ ihn nicht los. Kinder, die sich zusammengeschlossen hatten, um die Schlepper zu töten – diejenigen, die ihren Kameraden Leid zugefügt hatten.
    Aber wenn es das Gegenteil war?
    Wenn diese Kinder zur Gefolgschaft des Menschenfressers gehörten?
    Es gab einige Hinweise, die für diese Hypothese sprachen. Das Schuhwerk. Die Kleidung der Kinder. Die Verwendung der gleichen Holzsorte, aus der die Dornenkrone Christi angefertigt worden war. All das sprach für eine rückwärtsgewandte, altertümelnde Sekte. Ganz abgesehen von der bei den Morden angewandten Methode und den Verstümmelungen, die auf absonderliche Geheimriten hinwiesen. Die Sekte des Menschenfressers? In diesem Fall würde der »Meister« die Kinder losschicken, um seine eigenen Wachposten aus dem Weg zu räumen. Warum?
    17.30 Uhr. Immer noch keine Nachricht von Kasdan. Volokine nahm seinen zweiten »offiziellen« Auftrag in Angriff. Die Suche nach den im Exil lebenden Kollegen von Wilhelm Götz. Die regimetreuen Chilenen, die Ende der achtziger Jahre nach Frankreich ausgewandert waren.
    Er wählte Velascos Telefonnummer, der gerade dabei war, Kasdan anzurufen. Er hatte seine Unterlagen durchforstet und drei Namen gefunden. Reinaldo Gutteriez. Thomas Van Eck. Alfonso Arias. Drei mutmaßliche Henker, die sich wie Götz nach Frankreich abgesetzt hatten und von der damaligen Regierung aufgenommen worden waren.
    Nächstes Telefonat. Da er die Namen der chilenischen Staatsangehörigen hatte, war es ein Leichtes, ihnen mithilfe der elektronischen Visa-Archive auf die Spur zu kommen. Das einzige Problem: Es war Heiligabend. Volokine kontaktierte seine Kolleginnen beim Führungsstab der Gendarmerie im Innenministerium, die Bereitschaftsdienst hatten, und ließ seinen ganzen Charme spielen. Die Mädchen recherchierten für ihn. Die vier Chilenen, Götz eingeschlossen, waren alle mit dem Flug AF 452 am 3. März 1987 in Paris gelandet.
    Volokine bat die Polizistinnen, die Aufenthaltsorte der Männer vom Augenblick ihrer Ankunft an mithilfe der Datenbanken der Einwanderungsbehörde zu rekonstruieren. Abteilung Aufenthaltsgenehmigung. Bald stellte sich etwas Ungewöhnliches heraus: Während Wilhelm Götz sich nach drei Monaten »gemeldet« hatte, waren die drei anderen Chilenen verschwunden. Kein Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung. Keine Verlängerung des Visums. Nichts.
    Das Trio hatte offenbar das französische Staatsgebiet verlassen. Auch das konnte man mühelos überprüfen. Aber Volokine erlebte eine neue Überraschung: Die Henker hatten Frankreich nie verlassen. Wohin waren sie gegangen? Genossen sie einen rechtliche Sonderstellung? Der Russe hatte sich ans Außenministerium am Quai d’Orsay gewandt. Und nichts erfahren.
    Er hatte bei dieser Angelegenheit nicht mit einem Geheimnis gerechnet. Drei Männer betreten 1987 französischen Boden. Sie verlassen das Staatsgebiet nicht. Dennoch sind sie nicht mehr in Frankreich. Wo sind sie? Haben sie andere Namen angenommen? Man kann sich kaum vorstellen, dass diese drei frisch in Paris gelandete Chilenen über einschlägige Verbindungen verfügen, um sich eine neue Identität zuzulegen. Es sei denn, sie hätten von einer internen Unterstützung profitiert – der Staat hätte ihnen heimlich geholfen. Nein. Das war zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Die schlauen Burschen hatten nicht einmal einen Antrag gestellt, um den Status »politischer Flüchtlinge« zu erlangen. Sie waren woanders hingegangen. Wohin?
    18.00 Uhr.
    Der Russe versuchte, Kasdan zu erreichen. Anrufbeantworter. Er hinterließ eine

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