Choral des Todes
Mitteilung, dann stand er auf. Bezahlte. Stürzte hinaus auf die Avenue de Versailles. Er hielt es in dieser Bude voller Maschinengewehrgeknatter nicht mehr aus. Was sollte er jetzt tun? Die Nacht hatte sich über die weihnachtliche Geschäftigkeit gesenkt. Die Passanten eilten unter den Lichtbögen dahin, als hätte eine Sirene einen unmittelbar bevorstehenden Bombenangriff angekündigt. Die fatale Stunde nahte. Die schreckliche Schwelle des Festessens an Heiligabend.
Er dachte einen Augenblick an den kalten Truthahn. Wie würden die Zombies im Heim Weihnachten feiern? Mit heißem Truthahn? Vielleicht. Aber vor allem mit einem schönen Stück Hasch-Kuchen als Dessert …
Volokine genehmigte sich eine Crêpe mit Nutella statt des Weihnachtsessens und begab sich zum Taxistand der Porte de Saint-Cloud. Er schaute in seinen Taschen nach: Da waren noch einige Euro-Scheine. Doch er wusste nicht, wohin er fahren sollte. Als er in den Wagen stieg, hatte er eine Eingebung. Wenn man bei einer Ermittlung nicht weiterkam, sollte man das Weite suchen.
Es war Zeit, das Konkrete zugunsten der Idee fallenzulassen.
Die Tatsachen zugunsten der Abstraktion.
Lächeln.
Er wusste, welche Richtung er einschlagen würde.
KAPITEL 45
»Mein kleiner Cédric, wie geht es dir seit dem letzten Mal?«
»Es geht.«
»Hast du dich endlich entschieden?«
Volokine lächelte.
»Nein, Herr Professor, ich besuche Sie aus einem anderen Grund.«
»Komm herein.«
Der alte Mann trat zur Seite und bat den Russen in sein mit Filz ausgelegtes Arbeitzimmer in der Rue du Cherche-Midi. Es war 18.30 Uhr, aber der gute Mann schien es nicht eilig zu haben, Weihnachten zu feiern. Er hielt sich wie immer jenseits von Zeit und Raum auf. Sein Geist befand sich an einem fremden, undefinierbaren Ort, der Volokine faszinierte.
Seit seinem ersten Jahr beim Jugendschutzdezernat hatte sich der junge Polizist für Kinderpsychologie interessiert. Er hatte alle möglichen Bücher gelesen, sich über die verschiedenen Schulen kundig gemacht und Therapeuten interviewt. Volokine hatte zwar ein Händchen für Kinder, wollte sich dabei aber durch die Kenntnis der Theorien über die geheimen Mechanismen der kindlichen Psyche absichern, die komplexer und labiler ist als die der Erwachsenen.
Eines Tages hatte Volokine einen Artikel über die Urschrei-Therapie in die Hände bekommen. Diese Therapie war in den sechziger Jahren entwickelt worden und erlebte ihren Höhepunkt in der Flower-Power-Bewegung. Arthur Janov, der Erfinder dieser Therapie, behauptete, dass man durch die Bewusstmachung schmerzhafter Erfahrungen und Erlebnisse die Erinnerungen an die Geburt und an frühkindliche Traumen wachrufen könne. Dann müsse man schreien. Seinen Urschmerz herausschreien. Seine Geburt herausschreien. Wenn Volokine es richtig verstanden hatte, musste man aus zwei Gründen schreien: Zum einen weil man die ursprüngliche Gewalt noch einmal durchlebte – die des Auf-die-Welt-Kommens . Zum anderen weil dieser Schrei, der aus tiefer Kehle kam, einen neuen physischen, unerträglichen Schmerz hervorrief. Erst wenn man diesen Schmerz im Schmerz, den im Schrei eingeschlossenen Schrei, ausgestoßen habe, werde man befreit sein und ein »wirklicher« Mensch werden, der keine verbogene, symbolische, neurotische Beziehung mehr zu seiner Umwelt habe.
Volokine war begeistert von dieser Behandlungsmethode. Viele Menschen hatten sich ihr unterzogen. Vor allem in der Welt des Rock. John Lennon hatte den Urschrei ausprobiert. Die britische Band Tears for Fears hatte ihren Namen einem Buch von Arthur Janov entnommen. Der Name der schottischen Rockband Primal Scream bedurfte keiner weiteren Erklärung. Ihr Album XTRMNTR aus dem Jahr 2000 hatte Volokines Leben buchstäblich verändert.
In Paris gab es einen Urschreitherapeuten: Bernard-Marie Jeanson, Psychiater, Psychoanalytiker. Dieser Mann wagte es, diese Therapie bei Kindern anzuwenden – besser gesagt, bei Jugendlichen, die ein Trauma erlitten hatten. Er war der Meinung, dass das Individuum auf diese Weise seine Geburt durchleben und sozusagen zum zweiten Mal geboren werden konnte. Den Urschmerz herausschreien, um mit einer gereinigten Psyche neu zu beginnen.
Volokine hatte dem alten Mann und seinen außergewöhnlichen Geschichten stundenlang zugehört. Jeanson behauptete, dass er sich manchmal beim Urschrei Ohropax in die Ohren stopfen musste, weil sich in diesem Schrei ein derart überwältigender Schmerz ausdrückte. Ein nicht
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