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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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in den vier oberen Ecken des Zimmers und überzogen die Möbel mit einem gleichförmigen grauen Gespinst.
    Der Russe näherte sich einer Kommode und begutachtete die Gegenstände, die sich dort drängten. Flakons, Nippfiguren, gerahmte Fotos. Auf allem lag eine Art dunkler flauschiger Teppich. Alles roch hier nach käsiger Fäulnis.
    Er zog eine Schublade auf. Fotos, Dokumente, zusammengeklebt mit demselben schmutzigen Flaum. Vorsichtig ließ er die Hand darübergleiten. Womöglich würde eine Ratte aus dem Durcheinander hervorspringen. Er wischte die Fotos ab, um zu sehen, was sie darstellten. Hinter ihm durchstöberte Kasdan andere Winkel und Ecken, wobei er den Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Raum gleiten ließ.
    Volokine war sich nicht sicher, was genau er da sah. Ein behindertes Kind, das in einer Art eisernem Gerüst oder Korsett zu stecken schien oder in einem unbekannten Gerät gefoltert wurde. Andere Fotos. Kinderhände mit ausgerissenen Fingernägeln. Zerschnittene, aufgerissene, mit Zangen und Nägeln zerstochene Kindergesichter.
    Er blätterte weiter. Fein säuberliche, maschinengeschriebene Listen. Datums- und Ortsangaben. Slawisch oder spanisch klingende Namen. Dann andere Bilder. Ein Säugling, an den Händen und Füßen an ein Brett genagelt. Ein kleines Mädchen mit glatt abgetrenntem Arm, abgeschliffener Schulter, stehend, nackt, weiß, in einem noch helleren Zimmer.
    Kasdan trat zu ihm. Volo schloss die Schublade.
    »Verziehen wir uns«, murmelte der Russe, »das hier ist ein Totenhaus.«
    Der Armenier richtete die Taschenlampe auf das Gesicht seines Partners. Das, was er sah, ließ ihn flüstern:
    »Kein Problem. Wir …«
    »Anita?«
    Die beiden Männer erstarrten. Eine Stimme hatte die Stille zerrissen. Schrill, brüchig, wie von einem Knebel erstickt. Die Informationen von Arnaud kamen ihnen wieder in den Sinn. Ein Greis, der in diesem Refugium mit dem Tode rang.
    »Anita? Alte Nutte! Lass mich nicht warten …«
    Hallende Klopfgeräusche. Als würde ein Gefängnisaufseher mit seinem Knüppel gegen Heizungsrohre klopfen. Volokine versuchte herauszufinden, woher das Hämmern kam. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe schweifte kreuz und quer durch den Raum und enthüllte dabei neue Details. Ein Kamin. Waffen, die an einem Ständer hingen. Ein ausgestopfter Wildschweinkopf.
    TOM - TOM - TOM …
    Schläge gegen Blei oder Zink. Sie hallten in dieser alten Bruchbude wider wie auf einer riesigen ungestimmten Pauke. Ein schwarzes Loch, das alle Ängste und Schrecken der Kindheit ansog.
    Plötzlich verstummte das Klopfen. Volokine packte Kasdan an der Schulter und flüsterte:
    »Im ersten Stock.«
    Kasdan ging voran. Sie gelangten in einen Flur, an dessen Ende sich eine Treppe befand. Behutsam schlichen sie die Stufen hinauf. Ihre Schritte wurden vom Staub gedämpft.
    TOM - TOM - TOM …
    Zwischen den Klopfgeräuschen gellte die Stimme:
    »Anita … Miststück … brauch … verrecke!«
    Erster Stock. Volo lief auf Treibsand. Zu den grauenhaften Geräuschen kam noch etwas anderes, das ihm den Magen umdrehte. Eine Angst, die aus ferner Vergangenheit stammte und sich nicht benennen ließ. Etwas, das in ihm war und das ihn nie verlassen hatte. Wie die Madeleine bei Proust, die jedoch einen Albtraum heraufbeschwor.
    TOM - TOM - TOM …
    Plötzlich begriff er es. Dieses laute Poltern eines wütenden alten Mannes rief ihm seinen Großvater ins Gedächtnis zurück. Er hatte keine Erinnerungen an ihn, außer an diese Stimme. Wenn der Großvater zu viel Wodka getrunken hatte, bekam er Tobsuchtsanfälle. Das war das Einzige, woran sich Volokine erinnerte. Dieses Wutgebrüll, dieses Beben in seiner Kehle, das das Schlimmste ankündigte. Aber er erinnerte sich nicht an das, was folgte. Weder an die Schläge noch an die Erniedrigungen und Strafen.
    » ANITA !«
    Die zweite Tür links. Volokine fragte:
    »Klopfen wir an?«
    »Brauchen wir nicht.«
    Kasdan umfasste die Klinke, als der Mann hinter der Tür schrie:
    » SCHLAMPE ! ICH … ICH … ICH …«
    Sie traten ein. Volokine war auf alles gefasst, aber der Anblick, der sich ihm bot, war ihm schlechterdings vertraut. Ein total unaufgeräumtes Zimmer. Kleider auf dem Boden. Teller mit verdorbenem Essen, über die Kakerlaken huschten. In Dunkelheit getauchte Wände, alle mit derselben Blasen werfenden, feuchten Tapete. Das Ganze beleuchtet von zwei kleinen goldbraunen Nachttischlampen, die wie Kerzen flimmerten.
    Ein riesiges Bett, begraben unter Wolldecken,

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