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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Auster, und schüttete den Inhalt des Beutels in den Saft.
    Er griff nach einem Stück Mull und legte es in einen Aschenbecher, der herumstand. Er öffnete die Flasche Alkohol, drückte den Daumen auf die Öffnung und tränkte den Verband. Er tastete seine Taschen nach seinem Feuerzeug ab und zündete den improvisierten Brenner an. Die Flamme war klein, regelmäßig und bläulich. Er hielt den Löffel darüber. Die Oberfläche der Flüssigkeit begann zu beben. Volokine schwitzte derart, dass die von seiner Stirn herabfallenden Tropfen an der Schreibtischkante zerplatzten.
    Er griff nach einem neuen Stück Mull und tränkte es mit Alkohol, legte den Löffel vorsichtig ab und nahm aus der anderen Blechdose eine Spritze. Er drückte die Luft heraus, indem er mehrfach den Kolben betätigte, und steckte die Spitze der Nadel in den getränkten Verbandmull, der als Filter diente. Langsam zog er die Spritze auf. Das ebenso gefährliche wie verlockende Gift stieg in den Hohlkörper. Seine Hand zitterte.
    »Soll ich es machen?«, fragte Kasdan in seinem Rücken.
    »Kommt nicht in Frage«, feixte er. »Ich will die Polizei nicht korrumpieren.«
    Der Anblick der Spritze weckte ein schier unwiderstehliches Verlangen in seinem Körper. Wie der Gesang der Sirenen den an den Mast gefesselten Odysseus verlockte.
    Als er den Spritzenkolben ganz nach oben gezogen hatte, flüsterte er Kasdan zu:
    »Halten Sie mal.«
    Volokine reichte ihm die Spritze und näherte sich dem Skelett. Er stützte sich mit einem Knie aufs Bett, schob seine Hände unter die Achseln des alten Mannes und zog ihn mühelos hoch. Der General wog nur vierzig Kilo.
    Seine Augen funkelten wie wahnsinnig:
    »Du bist nicht Anita.«
    »Ich bin nicht Anita, Opa, aber ich hab was Leckeres für dich.«
    »Hast du mir eine Spritze gemacht?«
    »Ganz frisch. Zeig mir deine Venen.«
    Volokine streifte den linken Ärmel des Pyjamas zurück. Die Ellenbeuge war von verkrusteten Einstichstellen und schwärzlichen Venen überzogen. Das gleiche Bild an der rechten Ellenbeuge. Der Russe schlug die Decken zurück und inspizierte die Füße des bettlägerigen Alten. Nicht viel besser. Da waren nur blutverkrustete Stellen, infizierte Venen und Hämatome, die die Haut bis zu den Knöcheln zerfraßen. Anita, die Frau, die ihm wohl seine Spritzen gab, musste sich auf dieses Spiel genauso gut verstehen wie aufs Häkeln.
    Er knöpfte seine Schlafanzugjacke auf. Der gleiche entsetzliche Anblick. Der Oberkörper des alten Mannes war von Schnitten übersät. Arnaud hatte sie gewarnt: La Bruyère praktizierte seit Jahren Selbstverstümmelung. Es war unmöglich, einem solchen Kerl eine Spritze zu geben.
    Volokine überprüfte die intimsten Einstichstellen. Unter der Zunge. Unter den Hoden. Unmöglich. Der Mann stank nicht nur abscheulich, sein ganzer Körper war ein einziges Geschwür.
    Es blieb nur eine Möglichkeit.
    Etwas, das er noch nie ausprobiert hatte, weder an sich selbst noch an jemand anderem.
    »Die Spritze.«
    Die Spritze fiel in seine Hand. Krämpfe. Wieder verbrannte ihm das Heroin die Finger. In einem kurz aufblitzenden inneren Bild sah er, wie er sich die Nadel in den Körper rammte. Er spürte bereits ein wohliges Kribbeln am Ende seiner Extremitäten.
    »Halten Sie ihn fest. Ich werde ihm die Spritze setzen.«
    »Wo?«
    »Ins Auge.«
    »Bist du verrückt?«
    »Letzte Chance für einen Schuss. Ein Mythos bei den Junkies.«
    »Und wenn du ihm das Augen ausstichst? Oder wenn er verreckt?«
    »Entweder das, oder wir machen die Fliege.«
    Kasdan ging auf die linke Seite des Betts und packte die Vogelscheuche an den Schultern. Der General hatte einen lichten Moment. Seine Augen traten aus den Höhlen hervor. Ein übelriechender gelblicher Schleier überzog sie. Eine Flüssigkeit, die auf Fieber und panische Angst hindeutete.
    »Rühr dich nicht, Opa. In fünf Minuten wirst du mir dankbar sein …«
    Der alte Mann schrie. Volokine drückte sein Gesicht zur Seite. Mit Daumen und Zeigefinger spannte er die Lider weit auf. Die Iris und die Pupille wanderten Richtung Nasenwurzel und zuckten dann in die entgegengesetzte Richtung, als wollten sie die Flucht ergreifen. Volo führte die Nadelspitze immer dichter ans Auge. Er sah das Geflecht der feinen Haargefäße in der Nähe der Nasenwurzel.
    Er zielte, hielt den Atem an und schob die Nadel in die Hornhaut. Keinerlei Widerstand. Volo drückte weiter. Der General schrie nicht mehr. Das Brüllen war zu einem schrillen Stöhnen geworden. Der

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