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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Russe drückte auf den Kolben der Spritze, und es war, als ob seine eigenen Adern ausliefern. Ganz am Rande seines Bewusstseins bemerkte er Erfreuliches. Das Weiße im Auge füllte sich nicht mit Blut. La Bruyère schien keine Schmerzen zu haben. Und der Augapfel war nicht geplatzt.
    Volo zählte bis zehn und zog die Nadel dann ganz langsam heraus. Er erwartete irgendetwas. Eine Blutfontäne. Zähen Schleim, der aus der Wunde quoll. Nichts geschah. Volokine, der am Ende seiner Kraft war, wich ein paar Schritte zurück, während der alte Mann sich vollkommen ruhig in die Kopfkissen zurücksinken ließ.
    Kasdan blickte auf:
    »Alles in Ordnung?«
    Volokine lächelte. Zumindest glaubte er zu lächeln.
    »Ja, auch wenn’s ihm besser geht als mir.«
    »Wie lange dauert es, bis es wirkt?«
    »Das Heroin bringt sein Gehirn bereits auf Touren. In einigen Sekunden ist er so weit.«

KAPITEL 50
    Volokine hatte recht. Dreißig Sekunden später schlug der General die Augen auf. Seine verengten Pupillen strahlten Heiterkeit und Ruhe aus. Auf seine Lippen trat ein Lächeln:
    »Es geht mir gut …«
    Er beendete den Satz mit einem leichten Glucksen. Dann schien ihm allmählich die Wirklichkeit zu dämmern, und er gewahrte die beiden ungehobelten Burschen, die an seinem Bett standen.
    »Wer sind Sie?«
    »Die Weihnachtsmänner«, sagte Kasdan.
    »Sind Sie Diebe?«
    La Bruyère erlangte eine gewisse Würde zurück. Der Ton seiner Stimme, die Haltung seines Kopfes: Alles strahlte mehr Kraft aus. Der Offizier kam wieder zum Vorschein. Das Wrack berappelte sich. Ein heftiger Husten brach diesen Energieschub. Dann erholte er sich wieder.
    »Wer sind Sie, verdammt?«
    Volokine beugte sich zu ihm hinunter:
    »Polizei, Opa. Wir stellen dir ein paar Fragen und lassen dich dann mit deinen Tütchen Heiligabend feiern. Passt dir das?«
    »Fragen worüber?«
    Seine Stimme wurde immer schärfer. Der Offizier entsann sich jetzt, dass er sein ganzes Leben lang Befehle erteilt hatte.
    »Über Hans-Werner Hartmann. Chile, 1973.«
    Der Mann knöpfte seine Schlafanzugjacke wieder zu, verbarg seine Narben mit einer reflexartigen Geste. Er glich einem in Öl gemalten, rissigen, verdorrten Porträt.
    »Er darf das nicht sehen.«
    »Hartmann?«
    »Er darf das nicht sehen. Die Schändung des Leibes widerspricht seiner Philosophie vom Leiden.«
    Kasdan setzte sich ans linke Fußende des Betts. Volokine ans rechte. Zwei Männer am Bett eines kranken Großvaters.
    »Fangen wir ganz von vorne an«, erklärte Kasdan. »1973 war die Machtübernahme Pinochets. Was geschah damals in Frankreich?«
    »Weshalb sollte ich darüber sprechen?«
    »Damit wir Ihnen morgen früh nicht die Typen vom Drogendezernat auf den Hals schicken.«
    »Die können mir nichts.«
    Volokine beugte sich auf der anderen Seite des Betts vor:
    »Wir könnten auch deinen kleinen Vorrat ins Klo werfen. Ich hab dein Versteck gefunden, alter Freund.«
    Der Mann räusperte sich. Sehr würdevoll, sehr tapfer. Dann rollte er plötzlich die Augen, von panischer Angst ergriffen.
    »Haben Sie sie gesehen?«
    »Wen?«
    » Los niños. Die Kinder.«
    »Wo?«
    »In den Wänden. Sie sind in den Wänden!«
    Die beiden Partner wechselten einen Blick.
    »1973«, fuhr Kasdan fort, »erzählen Sie uns von Chile, und wir verduften.«
    Der alte Mann vergrub sich in seinen Kissen. Sein Gesicht und seine Schultern drückten in rascher Folge unterschiedliche Gemütszustände aus: Schrecken, Wohlbehagen, Würde. Er räusperte sich ein weiteres Mal. Der General war wieder zurück.
    »Es gab Abkommen, spezielle Schulungen. Ein Dienst, der Chile erwiesen wurde.«
    »Wir haben bereits mit General Condeau-Marie gesprochen.«
    »Ein Feigling. Hat den Schwanz eingezogen und sich davongemacht!«
    »Wir wissen, dass Sie im Rahmen der Operation Condor nach Chile entsandt wurden. Wir wissen, dass Sie Offiziere aus Chile, Argentinien, Brasilien und anderen Ländern ausgebildet haben. Was können Sie uns über diese Ausbildung sagen?«
    La Bruyère gluckste:
    »In Südamerika ereigneten sich damals seltsame Dinge. Heute spricht man von der Achse des Bösen.« Er feixte abermals. »Quatsch! Ich habe die echte Achse des Bösen gekannt. Es ging nicht um den politischen Kampf. Es ging, wie immer, um die Endlösung. Schlichtweg um die Ausmerzung aller umstürzlerischen Elemente, wo immer sie sich aufhielten. Nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Angehörigen, die Menschen in ihrem Umfeld sollten ausgerottet werden. All diejenigen,

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