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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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erlebt, das ist alles.«
    »Na ja, die Jugend …«
    Volokine erinnerte sich wieder. Als es in der Sporthalle dunkel geworden war, hatte er sein Glück probiert. Er hatte sich ihr genähert, und ohne richtig zu verstehen, was er tat, hatte er versucht, sie zu umarmen. Sie hatte sich ihm geschmeidig, ohne Gewalt, entzogen.
    »Kommt nicht in Frage. Nicht hier. Nicht einfach so.«
    Volokine war mit einem Kopfnicken zurückgewichen.
    »Verstehe.«
    Tatsächlich verstand er nichts. Er willigte aus einem anderen Grund ein. Wegen des seltsamen Funkelns in den Augen der Frau. Wegen der absoluten Klarheit des Augenblicks, der sich jeder Analyse, jeder vernünftigen Erklärung entzog.
    Volokine verscheuchte die Erinnerung.
    Er klimperte auf der Tastatur und beseitigte die Spuren, die er auf dem Rechner von Götz hinterlassen hatte.
    Kasdan deutete mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm:
    »Antwortet sie?«
    »Nie.«
    Der Armenier öffnete den Mund, zweifellos um ein weiteres Mal gegen ihn zu sticheln. Doch da läutete sein Handy.
    »Arnaud?«, fragte Kasdan. »Gibt’s was Neues? Ich ruf dich in zehn Minuten vom Auto aus an.«
    Die beiden Männer schlossen die Wohnungstür wieder ab und schlichen sich auf die Straße, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Noch eine Minute, und sie saßen im Volvo. Kasdan ließ den Motor an und schaltete die Heizung ein.
    Die Stimme Arnauds hallte ihm Wagen wider:
    »Ich hab den zweiten General ausfindig gemacht.«
    »Feierst du denn nicht Weihnachten?«
    »Reden wir nicht davon. Ich habe mich ins Obergeschoss verzogen. Es ist traurig, aber ich ertrage keine Familienfeste.«
    »Willkommen im Klub. Was hast du für uns?«
    »Die Adresse von La Bruyère. Er lebt noch. Auszeichnungen halten einen offenbar rüstig … Aber ich warne dich, ich weiß nicht, in welchem Zustand sich der Typ befindet. Ich hatte Schwierigkeiten, ihn aufzuspüren, weil er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Ende der achtziger Jahre wurde er aus dem Verkehr gezogen. Gesundheitliche Gründe.«
    »Weswegen?«
    »Psychische Probleme. La Bruyère ist psychisch krank. Er wurde mehrmals eingewiesen, wegen … Selbstkasteiung, Selbstverstümmelung, solche Sachen. Er leidet an masochistischen Wahnvorstellungen.«
    Volokine betrachtete den Park Montsouris. Kein Mensch zu sehen, völlige Finsternis. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Götz litt an der gleichen Störung. Das konnte kein Zufall sein. War er den gleichen Einflüssen ausgesetzt gewesen? Hatte er die gleiche Erfahrung gemacht?
    »La Bruyère war zunächst in die Klinik Val-de-Grâce eingeliefert worden«, fuhr Arnaud fort. »Dann in Fachkliniken in Paris und im Großraum Paris, Sainte-Anne, Maison-Évrard, Paul Guiraud …«
    »Schon gut. Kenne ich.«
    Der Russe warf Kasdan einen Blick zu. Er speicherte dieses Detail in einem Winkel seines Kopfes.
    »Und jetzt?«, fragte der Armenier ungeduldig.
    »Er vegetiert bei sich zu Hause vor sich hin. Ein Einfamilienhaus in Villemoble. Jetzt hat er wohl nicht mehr die Kraft, sich den Pimmel zu zerschnippeln. Aber man munkelt etwas anderes.«
    »Was?«
    »Drogen. La Bruyère soll sich sein Lebensende mit Spritzen versüßen, Heroin oder Morphium. Er muss sich in einem seltsamen Zustand befinden. Auf dem Zahnfleisch sozusagen …«
    »Hast du keine Verbindung zu unseren Chilenen gefunden, abgesehen von den ehemaligen ›Praktika‹ dort unten?«
    »Doch, verrückterweise. La Bruyère hat selbst im Ruhestand noch die internationalen Beziehungen überwacht, vor allem mit Chile. Punktuelle Konsultationen.«
    »Ja und?«
    »Offenbar hat er sich Ende der achtziger Jahre um die Überstellung bestimmter Militärangehöriger, ›politischer Flüchtlinge‹, nach Frankreich gekümmert.«
    »Könntest du die Liste dieser Soldaten überprüfen?«
    »Nein, dazu fehlen mir die Mittel. Ich gebe nur das wieder, was man mir gesagt hat. Nur La Bruyère weiß, was aus diesen Gästen geworden ist …«
    Kasdan bat um die genaue Anschrift des Generals. Volokine schrieb sie auf seinen Block.
    »Danke, Arnaud«, sagte der Armenier zum Schluss. »Denkst du an den dritten General?«
    »Klar. Aber an einem 24. Dezember um zehn Uhr abends werde ich da kaum weiterkommen.«
    Als Kasdan aufgelegt hatte, brauchten die beiden Männer kein Wort zu wechseln. Sie hatten einander verstanden.
    Ihr Heiligabend war noch nicht zu Ende.

KAPITEL 49
    Blau auf Blau.
    Die Autobahn unter dem Himmel.
    Teer und Indigo.
    Gegen Mitternacht tauchten

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