Choral des Todes
französischem Boden vorzugsweise vermögende Anhänger an, so wie es jede x-beliebige Sekte tat?
Auf anderen Seiten wurden die Dienstleistungen dargestellt, die die Gemeinschaft der Außenwelt anbot – ein Teil des Anwesens war öffentlich zugänglich. Jeden Sonntag durften die Bewohner der Region an einer Morgenmesse teilnehmen, die mit einem Konzert verbunden war. Außerdem konnten sie sich im Krankenhaus kostenlos behandeln lassen. Ein weiteres Angebot war ein Bildungszentrum, das aus einer Kinderkrippe, einem Kindergarten, einer Grundschule, einer Sekundarschule und einem Gymnasium bestand. Im Begleittext wurde ein »liberaler und bekenntnisneutraler« Unterricht zugesichert.
All das war zu perfekt. Je herzlicher sich die Gemeinschaft darstellte, desto mehr fröstelte Kasdan. Die Gruppe war hier nach dem gleichen Rezept verfahren, das ihr schon in Chile Erfolg gebracht hatte. Der Armenier war verblüfft, dass ein derartiger Wahnsinn, der allenfalls unter einem diktatorischen Regime vorstellbar sein mochte, sich in einem Land wie Frankreich hatte einnisten können. Diente die Kolonie auch hier als ein Folterzentrum?
Er setzte seinen virtuellen Besuch fort, indem er auf »Kontakte« klickte. Doch statt einer Adresse fand er nur ein Postfach in Millau. Man konnte der Gemeinschaft nicht direkt schreiben und auch keine elektronische Nachricht hinterlassen. Diese Webseite funktionierte nur in einer Richtung.
Kasdan klickte auf den Eintrag »Konzerte«. Die Kolonie gab regelmäßig Konzerte außerhalb ihres Territoriums – im Wesentlichen Gesangsstücke, die in den Kirchen der Region aufgeführt wurden. Er rief die Liste mit den Konzertdaten auf und machte eine überraschende Entdeckung. Die Sängerknaben gaben heute, am 25. Dezember, um 15.00 Uhr, in der Kolonie ein Konzert.
Ein unerwartetes Geschenk.
Die erträumte Gelegenheit, um das Sperrgebiet zu betreten.
Der Armenier sah auf seine Uhr. Noch nicht einmal acht. Er rief die Webseite Mappy auf und führte eine schnelle Recherche durch. Arro lag dreißig bis vierzig Kilometer von der nächsten größeren Stadt, Florac im Departement Lozère, entfernt. Laut der Webseite würde die Anfahrt sechseinhalb Stunden dauern. Kasdan konnte die Strecke in fünf Stunden bewältigen, wenn er sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen hielte. Er schaltete den Drucker an und druckte die genaue Reiseroute aus.
Als er nach dem Blatt griff, dachte er an Volokine. Nach der Vollnarkose wäre er für den ganzen Tag erledigt. Erst am späten Nachmittag würde er aufwachen. Kasdan würde ihn dann anrufen – und ihn am späten Abend aufsuchen, um ihm alles mitzuteilen, was er herausgefunden hätte.
Kasdan nahm den Aufzug, hielt im Erdgeschoss und warf einen letzten Blick zum OP -Trakt. Volo war noch immer nicht rausgekommen. Er hinterließ eine kurze Notiz für ihn. Mit etwas Glück war er zurück, bevor der Junge wieder zu sich kam.
Wie elektrisiert ging er durch den Flur. Er verspürte keinerlei Angst, keinerlei Müdigkeit. Nur ein vages Gefühl von etwas Beispiellosem. Er hatte alle möglichen Arten von Kriminalfällen kennengelernt. Fälle, in denen der Täter allein gehandelt hatte. Manchmal war es ein Mörderpärchen gewesen. Dann wieder hatte er es mit Verbrecherbanden zu tun gehabt.
Heute richtete sich der Verdacht gegen etwas viel Größeres.
Es war weder ein Mann noch ein Duo oder eine Gruppe.
Der Verdacht richtete sich gegen ein ganzes Territorium.
Eine Terra incognita auf der Karte Frankreichs.
Das Reich der Angst.
Teil 3
Die Kolonie
KAPITEL 59
Kasdan fuhr vier Stunden ohne Pause, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von hundertachtzig Stundenkilometern. An jedem Radar beschleunigte er noch mit einer heimlichen Befriedigung. Er fuhr so schnell, dass er die Ermittlungen und die Sekte vollkommen vergaß. Die geringste Vibration des Lenkrads konnte tödliche Folgen für ihn haben. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde von dem Asphaltstreifen in Beschlag genommen, der sich zog und zog und zog …
Er war auf dem kürzesten Weg direkt nach Süden gefahren, Richtung Clermont-Ferrand, und von dort weiter über die A75 nach Puy und Aurillac. Hundert Kilometer weiter, nach der Brücke über die Truyère, hielt er an einer Tankstelle, um wieder vollzutanken. Auf dem Parkplatz der Cafeteria beschloss er, das Polizeirevier in Gennevilliers anzurufen. Ohne seinen Namen zu nennen, teilte er den Polizisten mit, dass sie in der Werkstätte von Régis Mazoyer am Rand der
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