Choral des Todes
Cité Calder ein schrecklicher Fund erwarte. Bevor man ihm eine Frage stellen konnte, legte er auf.
Er wusste, was er tat. Es war Mittag. Eine Streife würde das überprüfen. Der diensthabende Stellvertreter des Staatsanwalts würde kontaktiert. Der Fall würde der Kriminalpolizeidirektion des Departement Hauts-de-Seine übertragen. All das an einem 25. Dezember. Die Ermittlungen würden erst am 26. so richtig beginnen. Das Telex an den Führungsstab der Gendarmerie würde an diesem Tag losgeschickt. Man würde einen Zusammenhang mit den anderen Morden feststellen. Aber dann wäre schon der 27. Dezember. Und die Ergebnisse der Autopsie und der Analyse der am Tatort genommenen Proben würden sogar noch später vorliegen. Also hatten er und Volo einen entsprechenden Vorsprung für ihre eigenen Ermittlungen.
Der Armenier betrat die Cafeteria. Kein Mensch. Alle saßen jetzt im Warmen und genossen ihr Weihnachtsmahl.
Kasdan leistete sich einen Kaffee und schaltete sein Handy wieder an. Er wollte eine andere Information überprüfen. Er wählte die Nummer des Handys eines Kameraden, der Mitglied eines der Vereine in der Rue Goujon war. Ein Armenier alten Schlags, der seine Tage mit dem Brettspiel Tavlou – einer Art Backgammon – und Erinnerungen an die Heimat verbrachte. Der Mann hatte einen Teil seines Lebens in München verbracht.
»Kegham? Doudouk hier.«
»Rufst du mich wegen des Weihnachtsfests der Odars an?«
»Nein, ich möchte dich um eine Auskunft bitten.«
»Ich habe mich auch schon gefragt …«
»Ich suche die Übersetzung eines deutschen Wortes. Gefangen oder gefenden .«
»In welchem Zusammenhang?«
Als das Messer in Volokines Oberschenkel hineingerammt wurde.
Kasdan fasste zusammen:
»Das Wort wurde von einem Kind ausgesprochen.«
»Im Rahmen eines Spiels?«
»Ja, genau.«
»Also das entspricht unserem ›Katz-und-Maus-Spiel‹. In Deutschland heißt das Spiel Fangen . Eines der Kinder jagt die anderen. Sobald es einen Spielkameraden berührt, sagt es: ›Gefangen‹ . Das gefangene Kind wird nun seinerseits zum Fänger …«
Kasdan sah vor seinem inneren Auge wieder die Masken aus getriebenem Silber.
Monströse Kinder, die mit Blut und Leid spielten.
»Danke, altes Haus«, sagte er. »Sehen wir uns zu Weihnachten in Saint-Jean-Baptiste?«
»Mit Vergnügen.«
Die Armenier feiern Weihnachten an Epiphanias. Noch eine Art, ihre Verschiedenheit zu verdeutlichen. Die Grenzen ihrer abgesonderten Welt. Aber all dies schien ihm jetzt, in diesem Moment, Lichtjahre entfernt zu sein. Er nahm noch einen Kaffee. Schluckte gleich anschließend sein Depakote und sein Cipralex. Die schwarze Brühe schmeckte nach nichts, aber die Hauptsache war erledigt. Seelisches Gleichgewicht für den Tag. Erleichterung darüber, seine Dosis eingenommen zu haben.
In der Scheibe des Saals nahm er seine Silhouette wahr. Er hatte sich die Zeit genommen, bei seiner Wohnung vorbeizufahren. Er hatte sich geduscht und rasiert und trug jetzt einen schwarzen Mantel aus reiner Wolle, einen hochwertigen dunklen Herrenanzug mit Bügelfalte und Aufschlug, den er für die Beerdigung Narinés gekauft hatte, ein weißes Hemd, eine moirierte Seidenkrawatte und polierte Weston-Schuhe. Kasdan war bereit für das Choralhochamt der Kolonie.
Er griff nach dem Zündschlüssel und ging hinaus in den eisigen Wind.
Nach einigen Kilometern Autobahn nahm er die N88 und erblickte von Raureif getüpfelte Ebenen. Schwarztannen. Kurz geschnittene Wiesen, so weit das Auge reichte. Seinem Plan gemäß fuhr er jetzt am Lozère-Plateau entlang. Es war ein schneeloser Winter, und diese Region machte da keine Ausnahme. Ein grauer Himmel über den brachliegenden Feldern. Nichts regte sich in der Ödnis, abgesehen von dem Wind, der mit ganzer Kraft blies. Sein Volvo wurde durchgeschüttelt wie ein Kutter in einem Sturm.
Er fuhr langsamer. Ordnete seine Gedanken. Er war jetzt bereit, sich mit einer Tatsache auseinanderzusetzen, die ihn derart überrascht hatte, dass er sie in einen Winkel seines Bewusstseins verbannt hatte. Im Laufe der Ermittlungen war ein Bruchstück seiner eigenen Vergangenheit aufgetaucht. Ein verschüttetes, vergrabenes, vermeintlich vergessenes Bruchstück. Er hatte nicht mit Volokine darüber gesprochen. Er hatte es sich nicht einmal selbst eingestanden. Aber die Tatsache war da. Als er die Spur der drei französischen Folterer verfolgte, die in Chile ihr Unwesen getrieben hatten, war er wieder auf die Fährte von Oberst
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