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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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bei dem Dealer was gespritzt hatten oder nicht.
    Letztes Stockwerk. Eine Vogelscheuche trat aus der Wohnung. Volokine hätte sich hineinstehlen können, aber er zog es vor, zu läuten. Er wollte die Wohnung nicht betreten. Er wollte nicht die schmierige Atmosphäre der Abhängigkeit erleben, die immer bei einem Zwischenhändler herrscht.
    Als der Dealer ihn sah, verzog er das Gesicht zu einem halb wütenden, halb verächtlichen Lächeln.
    »Das fängt doch nicht wieder an, oder? Ich muss zusehen, wie ich über die Runden komme.«
    »Das fängt nicht wieder an. Ich hab’s aufgegeben.«
    »Sieht man.«
    »Halt die Klappe.«
    »Du verstehst nicht. Ich hab jetzt Freunde bei der Polizei und die …«
    Volokine packte den Typ am Hals und drückte ihn gegen den Türrahmen:
    »Klappe, hab ich gesagt. Gib mir das, was ich will, und ich verschwinde.«
    »Du fällst mir wirklich auf den Wecker. Das ist Erpressung …«
    Volokine drückte fester zu.
    »Mach schon.«
    Er spürte das gefaltete Papier in seinem Handteller.
    Das Zittern, der Hitzestoß, den das Heroin gleich durch seinen Körper jagen würde.
    Volokine ließ den Dealer los und trat zurück, allein schon durch die Nähe des Gifts beruhigt.
    »Adios, Blödmann. Das war die Letzte.«
    »Wir werden sehen.«
    Der Polizist humpelte die Treppe hinunter, doch er spürte keine Schmerzen mehr.
    Er stieg ins Taxi und sagte zu dem Chauffeur:
    »Ich muss eine Apotheke finden, die Notdienst hat.«
    Spritzen. neunzigprozentiger Alkohol. Verbandwatte. Aber vor allem musste er einen Unterschlupf finden, wo er seine Katharsis ungestört vollziehen konnte. Unter keinen Umständen würde er in seine Wohnung in der Rue Amelot zurückkehren. Und er würde auch nicht in einem heruntergekommenen Hotel der Banlieu absteigen. Er konnte eine Brasserie aufsuchen und einen Schwarztee mit Zitrone bestellen. Der Tee wegen des Löffels, die Zitrone wegen des Safts. Aber bei dem Gedanken, sich auf einem schmutzigen Klo einen Schuss zu setzen, drehte sich ihm der Magen um.
    Der Chauffeur hielt unter einem Neonkreuz. Fluoreszierendes Grün. Granithimmel. Volokine sprang auf den Gehsteig. Diese Beweglichkeit war eine freudige Überraschung. Er konnte seine Ermittlungen fortsetzen, ohne sich schonen zu müssen.
    Der Polizist durchquerte die Apotheke, vorbei an Ständern mit Pflegecremes und Wundermitteln zum Abnehmen. Er ging an der Warteschlange vorbei und gab seine Bestellung auf, in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
    Die Apothekerin wagte es zu fragen:
    »Haben Sie ein Rezept?«
    »Nein, und ich hab’s eilig. Ich bin heroinabhängig.«
    »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst?«
    »Natürlich nicht. Mein Kollege ist Diabetiker. Er wartet im Auto auf mich. Könnten Sie sich bitte beeilen?«
    Die Frau, durch seine Erklärung weitgehend beruhigt, kam seiner Bitte nach. Drei Minuten später saß er wieder im Taxi und presste seine Beute mit den Armen an sich.
    »Boulevard Voltaire«, sagte er.
    Er wusste jetzt, wohin er gehen würde. Es gab keinen anderen Ort, keinen anderen Schlupfwinkel. Wenige Minuten später war er da. Der Universalschlüssel für die Eingangstür. Sein Hauptschlüssel für die Dreipunktschlösser. Er schloss die Wohnungstür mit dem Fuß und spürte eine Welle des Wohlbehagens. In gewisser Weise war er daheim.
    Bei Lionel Kasdan.
    Bei dem alten Herrn.
    Volo ließ die Umhängetasche und die Drillichjacke fallen, machte es sich in dem Zimmer bequem, nachdem er sich die Hände gewaschen und in der Küche einen Teelöffel und eine Zitrone geholt hatte. Er suchte eine Krawatte, um sich die Arterie abzubinden. Bei dem Gedanken an das Sakrileg, das er beging, fröstelte es ihn. Anschließend setzte er sich an die Bettkante und gab sich seinem Ritual hin. Er fühlte sich sonderbar ruhig. Es war das erste Mal, dass er sich zu einem ganz bestimmten Zweck einen Schuss zubereitete.
    Heute würde das Heroin die Rolle eines Wahrheitsserums spielen.
    Er legte die Watte in den Löffel, steckte die Nadel in das Gewirr der getränkten Fasern und zog die Spritze auf. The needle and the damage done . Volokine hatte kein schlechtes Gewissen. Er sagte sich: »Es ist für eine gute Sache.« Er sagte sich: »Es ist das letzte Mal.« Dann, mit einem Lächeln auf den Lippen: »Niemals einem Junkie vertrauen.« Er grinste höhnisch. Er hatte die Schwelle überschritten. Jetzt war er dort, wo nichts mehr zählte, außer dem tiefen Wohlgefühl, das ihn erwartete.
    Er führte die Nadel unter seine Haut,

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