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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Hand. Er rief seine Mailbox ab. Keine Nachricht von Kasdan. Wo war der alte Herr? Er fühlte sich allein, verlassen und verloren. Tränen stiegen ihm in die Augen. Freundschaften waren gefährlich. Es war wie mit allem anderen: Man konnte süchtig danach werden.
    Die Krankenschwester war immer noch da, sie stand vor seinem Bett. Er hatte den Eindruck, als freue sie sich über seine leere Mailbox und seine bedrückte Miene. Ganz abgesehen davon, dass er keinen Trauring trug.
    »Alles ist bestens gelaufen«, sagte sie mit sanfter Stimme. »In einer Woche werden Sie herumspringen wie ein Hase. Ich werde Sie ins Kino einladen, um das zu feiern.«
    »Wie lange muss ich bleiben?«
    »Sie müssen mit drei Tagen rechnen.«
    Nachdem sie seinen Gesichtsausdruck gesehen hatte, fügte sie hinzu:
    »Vielleicht zwei. Sie müssen mit dem Assistenzarzt sprechen.«
    Volokine drehte sich zum Fenster und zog die Decke hoch bis zum Hals.
    »Ich muss schlafen.«
    »Natürlich«, flüsterte sie, »ich gehe schon …«
    Erleichtert hörte er die Tür ins Schloss fallen. Eine Woche ohne Dope. Nicht schlecht. Aber es war ein bitterer Sieg. Eine entsetzliche Kraft drückte auf seinen Brustkorb. Die Wirkungen der Anästhesie ließen nach und enthüllten eine andere Beklemmnis. Härter, älter. Eine grenzenlose Traurigkeit, die er sich nicht erklären konnte.
    Er schloss die Augen, und bruchstückartige Erinnerungen stürzten auf ihn ein. Das aufgeschlitzte Gesicht Naseers. Der nackte Leichnam Manourys. Das schwarze Herz von Mazoyer. Dann das Messer in seinem eigenen Körper … Gefangen …
    Er begriff die Wahrheit. Es ging nicht um seine Verletzung, noch um die Krämpfe des Entzugs. Diese Verbrechen machten ihn krank. Der Missbrauch von Kindern war für ihn nichts Neues, aber in dieser Geschichte von einer Sekte, die dem Glauben und der Strafe einen so hohen Stellenwert beimaß, lag eine besondere Grausamkeit, die ihn stark berührte. Etwas, was ihn an seine eigene Geschichte erinnerte. Diese Geschichte, an die er sich gerade nicht erinnern konnte.
    Alles geschah ohne ihn.
    Zwischen den Fakten und seinem Unbewussten war eine Verbindung hergestellt worden.
    Er öffnete die Augen wieder. Ihm war schwindelig. Mit Mühe gelang es ihm, sich an der Bettkante aufzusetzen. Dann schlurfte er zu dem Wandschrank, in dem seine Kleider und seine Umhängetasche verstaut waren. Er trug nur einen Zellstoffkittel auf der bloßen Haut, und das verschlimmerte noch sein Gefühl der Schwäche.
    Er kniete sich nieder, entdeckte auf seiner Tasche einen Zettel, auf den Kasdan etwas geschrieben hatte, was für ihn keinen Sinn ergab. Der alte Herr schrieb, die Sekte der Colonia Asunción habe sich im Süden Frankreichs angesiedelt, und er sei dorthin gefahren, um sich ein Konzert anzuhören. Was bedeutete das? Volokine war zu durcheinander, um sich einen Reim darauf machen zu können.
    Er fand den Shit, das Zigarettenpapier, die Metro-Fahrscheine.
    Zuckelte zurück zu seinem Bett, setzte sich auf die Bettkante und begann sich ein Tütchen zu drehen.
    Persönliche Betäubung.
    Während er die Blättchen aneinanderklebte, dachte er nach. Über seine eigene Vergangenheit. Selbst unter der Folter hätte er es nie zugegeben, aber er hatte ein Problem mit seinem Gedächtnis. Zwei Jahre seiner Kindheit waren ihm gestohlen worden. Ein Abgrund, eine klaffende Leere. Weshalb erinnerte er sich nicht? Hatte er ein Trauma erlebt, das er verdrängt hatte? Die Stimmen. Eine Kirche. Ein Schatten. Ja, in den unzugänglichen Gebieten seines Unbewussten verbarg sich eine Erinnerung. Ein Ereignis, das, wie die Schere, die ein Chirurg im Bauchraum eines Operierten vergessen hat, einen schwärenden Abszess herbeiführte.
    Er öffnete die Craven und schüttete den hellen Tabak auf die Blättchen. Wieder kehrte seine Gewissheit mit großer Stärke zurück. Er spürte, ohne es erklären zu können, dass es einen Zusammenhang zwischen seinem Trauma und diesem Fall gab. Oder zumindest spürte er, dass er freier wäre und klarer sehen würde, wenn es ihm gelang, sich diesen frühkindlichen Schock bewusst zu machen. Dann würde er auch mit einem Schlag die Verstrickung der Kolonie in diese Verbrechen durchschauen.
    In sich gehen.
    Sich erinnern.
    Nicht um seinetwillen.
    Für die Ermittlungen.
    Er dachte an Bernard-Marie Jeanson und seinen Stuss über den Urschrei. Aber tatsächlich war es gar nicht so abwegig. Er musste sein Eitergeschwür selbst herausschneiden. Diese brandige Wunde in seinen

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