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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Eingeweiden. Diese Befreiung würde ihn bei der Aufklärung des Falls einen großen Schritt weiterbringen.
    Während er den Cannabis anbrannte, hatte er das Gefühl, dass es ihm gleich zu Bewusstsein kommen würde.
    Er stand kurz davor, sich zu erinnern.
    Die Tür war da, in Reichweite.
    Er musste sie nur aufdrücken …
    Aber sein Wille reichte nicht aus.
    Jeanson aufsuchen? Das, was er verdrängt hatte, herausschreien? Nein. Er glaubte nicht an die Hirngespinste des Psychiaters. Um sich zu befreien, kannte er nur ein Mittel – ein radikales. Er zündete seinen Joint an, während er sich sagte, dass seine Überlegung nur eine fadenscheinige Ausrede war. Aber es war schon zu spät. Die Idee keimte bereits in ihm, und ihre Triebe durchwucherten sein Gehirn.
    Er torkelte ein weiteres Mal zu dem Einbauschrank, nahm seine Sachen heraus und bemerkte, dass jemand seine zerrissene Hose durch eine Jogginghose ersetzt hatte. Zweifellos eine Aufmerksamkeit der Krankenschwester. Er zog sich an. Knöpfte sein Hemd zu, machte seine Drillichjacke zu, streifte seine Umhängetasche über. Abmarschbereit, aber ihm fehlte etwas.
    Er durchsuchte seine Drillichjacke, dann seine Umhängetasche, konnte seine Automatik aber nicht finden. Zweifellos Kasdan. Kalter Schweiß trat auf sein Gesicht. Man müsste das Gefühl der Macht, das mit dem Tragen einer Waffe verbunden ist, einmal psychoanalytisch beleuchten. Alle Polizisten kennen diese köstliche Empfindung, über der Masse zu stehen. Jetzt kam sich Volokine wie kastriert vor. Wenigstens fand er in seiner Tasche seine Polizeimarke. Besser als nichts.
    Er schlüpfte in den Gang, nachdem er sein Tütchen sorgfältig in seiner Tasche verstaut hatte. Mit gesenktem Kopf hinkte er an den Wänden entlang, ohne einer Pflegekraft zu begegnen. Innerhalb weniger Sekunden war er draußen, auf dem Klinikgelände. Volo wusste nicht einmal, in welchem Krankenhaus er sich befand. Er verließ sich auf sein Gespür und bemerkte, dass sein Bein nicht sehr wehtat.
    Er verließ das Krankenhausgelände und fand sich auf dem Boulevard Magenta wieder. Erst in diesem Moment fiel ihm der Name der Klinik wieder ein. Lariboisière. Er dachte an Kasdan, der ihn, blutverschmiert und halb bewusstlos, hierhergebracht hatte. Dafür würde er sich bei dem Armenier revanchieren.
    Dieser Gedanke rief weitere Bilder in ihm wach. Der schillernde Platz in der Cité Calder. Der Schornstein, der eine vom Mond beschienene blaue Rauchfahne ausstieß. Der Junge mit der Silbermaske. Gefangen. Er sah die Hand des Jungen vor sich. Die Klinge in seinem Oberschenkel. Die Erinnerung verwandelte sich in eine Empfindung. Die Empfindung in Übelkeit. Er glaubte, sich gleich auf dem Gehsteig erbrechen zu müssen.
    Er sah ein Taxi und stürzte darauf zu.
    »Rue d’Orsel.«
    Er betrachtete seine Hände. Sie zitterten ruckartig. Er ließ sich in den Sitz sinken und schloss die Augen.
    Für die meisten Menschen ist die Welt des Heroins eine Welt für sich, bevölkert von Zombies mit schwarzen Ringen unter den Augen, die entweder an einer Überdosis sterben oder als säumige Zahler umgebracht werden. Die Wahrheit ist banaler. Die Welt der Drogen, das sind vor allem Telefonate, langes Warten, das Hin- und Herlaufen in Treppenhäusern. Gespräche beim Dealer, die keinen Sinn ergeben, endlos langes Verschwinden auf Toiletten, soziale Reflexe, unangemessene Verhaltensweisen, die immer darauf abzielen, das Gegenüber hinters Licht zu führen, die normalen Leute nachzuahmen – diejenigen, die nicht krank sind.
    Der Russe griff nach seinem Handy. Er wählte eine Nummer, die er aus seinem elektronischen Speicher gelöscht hatte, aber auswendig kannte:
    »Marc? Volo.«
    »Das ist nicht wahr …«
    »Ich komme.«
    »Ich habe jetzt Kontakte bei der Polizei. Du kannst nicht mehr …«
    »Ich komme. Dann kannst du mir von deinen Kontakten erzählen.«
    »Verdammt …«
    Der Mann wirkte völlig genervt. Volokine legte grinsend auf. Das Taxi fuhr die Rue de Clignancourt hinauf und bog nach links in die Rue d’Orsel ein.
    »Da sind wir. Lassen Sie mich hier raus und warten Sie.«
    Er schlüpfte zwischen den geparkten Wagen hindurch, ging einige Häuser weiter und stahl sich in den Hauseingang.
    Fünf Stockwerke ohne Aufzug.
    Das hatte er vergessen – und so begann sein Martyrium.
    Auf jedem Treppenabsatz wurde er langsamer, um tief durchzuatmen. Jedes Mal begegnete er Gespenstern, die nervös oder völlig weggepfiffen herunterkamen. Je nachdem, ob sie sich

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