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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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eine weite Anfahrt.«
    Der Mann, der gerade aufgetaucht war, lächelte nicht zurück. Er war um die dreißig, breitschultrig und trug eine schwarze Jacke und ein weißes Hemd. Womöglich würde er in der Abendmesse einen Auszug aus den Evangelien lesen.
    »Das Programm«, sagte er und hielt Kasdan ein bedrucktes Blatt hin.
    Er öffnete die hölzerne Doppeltür, die in den Konzertsaal führte, einen Spalt breit. Ein zusammenhängender Raum, offen bis zum Dachstuhl, der in der Mitte von einem Längsbalken durchquert wurde. Kasdan hob die Augen und schätzte die Höhe des Saales ab: mindestens zehn Meter. Dann senkte er den Blick. Der Saal war brechend voll. In den ersten Reihen saßen die Mitglieder der Kolonie – erkennbar an ihrem weißen Kragen und ihrer schwarzen Jacke. Dahinter das Publikum, Landwirte aus der Umgebung, Honoratioren, Schäfer, herausgeputzte Männer und Frauen, die aber irgendwie nicht richtig zusammenpassten.
    Im hinteren Teil des Saales sprach ein Mann auf einem Podium in ein Mikrofon. Er war um die fünfzig und hatte einen Vollbart, der ihm das Aussehen eines skandinavischen Pastors gab. Auch er trug die Uniform der Kolonie Asunción: weißes Hemd und eine Jacke aus schwarzem Tuch. Kasdan fiel auf, dass sie keine Knöpfe hatte. Zweifellos ein weiteres Verbot der Sekte.
    Der Mann sprach mit sanfter Stimme. Kasdan hörte nicht zu. Er bemerkte, dass hier die gleiche Atmosphäre herrschte wie bei der Versammlung einer Kirchengemeinde. Einmal abgesehen davon, dass das Mikrofon keinen schrillen Rückhall aussandte und dass es nicht so hundekalt war wie in allen französischen Kirchen. Im Gegenteil, diese Zeremonie verströmte eine tiefe Herzlichkeit, eine Gastlichkeit, die nichts mit der Strenge der katholischen Religion zu tun hatte.
    Aber all dies war lediglich eine Inszenierung. Das trügerische Aushängeschild. Er dachte an das KZ Theresienstadt, das mustergültige Ghetto, das die Nazis in der Tschechoslowakei errichtet hatten, wo Hartmann seine ersten Erfahrungen gesammelt hatte. War das hier ein kleines Theresienstadt, wo Kinder gefoltert wurden und wo entsetzliche Forschungen über die Grenzen der menschlichen Leidensfähigkeit durchgeführt wurden?
    Der Applaus riss ihn aus seinen Gedanken. Der Prediger griff bereits nach dem verchromten Fuß seines Mikrofons, um die Bühne frei zu machen. Die Kinder betraten im Gänsemarsch das Podium. Etwa dreißig, alle in weißem Hemd und schwarzer Hose. Ausschließlich Jungen, zwischen zehn und sechzehn Jahre alt. Sie hatten mädchenhaft feine und ebenmäßige Gesichtszüge.
    Alle nahmen Platz. Auf dem Programm standen vier Choräle. Der erste war ein A-cappella-Werk aus dem 14. Jahrhundert: Gloria in excelsis Deo , ein Auszug aus der Messe de Tournai . Der zweite Choral, das Stabat mater dolorosa aus dem Stabat Mater von Giovanni Pergolesi in einer Version mit Klavierbegleitung, stammte aus dem 18. Jahrhundert. Der dritte Choral – das Programm hatte eine chronologische Reihenfolge – war der Cantique de Jean Racine , op. 11 von Gabriel Fauré, bearbeitet für Stimme und Klavier. Schließlich die Trois Petites Liturgies de la Présence Divine von Olivier Messiaen.
    Kasdan dachte gerade, dass er sich verdammt langweilen würde, als der Chorleiter die Bühne betrat. Abermals Beifall. Er dachte an Wilhelm Götz. Hatte er diesen Chor dirigiert? Hatte er hier gelebt?
    Der Chor setzte ein. Augenblicklich versetzten ihn die Stimmen in eine Welt, in der es kein Geschlecht, keine Sünden, keine Schwere gab. Kasdan erinnerte sich an das Miserere , das er am ersten Abend bei Götz gehört hatte. Alles hatte von dort seinen Ausgang genommen. Von dieser Reinheit. Von diesen Tönen, die an den Klang einer himmlischen Orgel erinnerten. Aber in seiner Erschöpfung wurde diese Wohlklang von einem anderen Geräusch überlagert: dem Schmerzensschrei von Götz, der in den bleiernen Orgelpfeifen gefangen war.
    Die Polyphonie hallte in dem Saal wider und beschwor trotz der warmen Holzverkleidung Bilder von eiskalten Abteien herauf, von schmucklosen Steingewölben, von Mönchskutten und Opferungen. Eine Verneinung des Lebens, die nach etwas Höherem strebte und die Wirklichkeit, das Diesseits, mit einem düsteren Mantel überzog.
    Kasdan konzentrierte sich auf die Gesichter der Kinder, die ihm unwirklich vorkamen. Diese Gesichter glichen den Silbermasken der letzten Nacht. Sie hatten dieselbe Kälte, dieselbe Ausdruckslosigkeit. Schaudernd empfand er die Grausamkeit des

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