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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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drückte den Spritzenkolben herunter und spürte, wie sich die warme Woge in ihm ausbreitete. Er hätte ein Buch darüber schreiben können, wie schnell das Blut durch die Adern fließt. Über die Magie des Netzes der Venen, das mit großer Geschwindigkeit ewige Milde und Ruhe transportiert.
    Einige Sekunden lang genoss er die Welle des Wohlbehagens. Alles fiel von ihm ab. Die Welt. Ihr Einfluss. Ihr Gewicht. An ihre Stelle trat eine ungeheuer genussvolle und entspannende Leichtigkeit. Die Zeit war abgeschafft. Getragen von dem tiefen Lustgefühl, malte sich Volokine aus, auf einem milchigen Schaum zu surfen. Einem feinen Flausch aus ätherischen Blasen, die in seinem Gehörgang prasselten, wie Rasiergel, das er an einem unwirklichen Morgen im Innern seiner Ohren vergessen hätte …
    Das berauschende Gefühl der Freude raubte ihm den Atem. Er seufzte und zuckte zusammen wie nach einem Orgasmus. Dann sank er im Zeitlupentempo zurück aufs Bett, von Wohlgefühl und Ruhe überwältigt. Er war nur noch ein Körper in der Umlaufbahn, der sich um seine eigene Lust und sein eigenes Gehirn drehte, der auf kleiner Flamme köchelte, vergoldet wie ein Buddha am Ende einer Grotte.
    Sich erinnern …
    Sich auf die Vergangenheit konzentrieren, um den wahren Kern freizulegen.
    Es gab ein lautes Knacken wie das Klicken von Knochen unter den Fäusten eines Osteopathen.
    Dann ging tatsächlich die Tür auf …
    Ein Flimmern vor den Augen, und dann wusste er –

KAPITEL 61
    Sein erster Kontakt mit der Kolonie war ein elektronisches Portal in einem offenkundig unter Strom stehenden Stahldrahtzaun, der mit Rasierklingen gespickt war; dahinter standen Wachtürme. Zwei junge Männer tauchten auf. Puppenhafte Erscheinungen mit rosigen Wangen und dünnem Haar, eingemummt in dicke Jacken aus schwarzem Leinen, die ihnen das Aussehen von Eisenbahnern aus dem letzten Jahrhundert gaben.
    Sie forderten Kasdan auf, auszusteigen. Nahmen eingehend sein Auto in Augenschein. Der Armenier hatte am Ortsende von Florac seine Waffe unter dem Ersatzreifen im Kofferraum versteckt. Die Grenzwächter fragten, ob er eine Kamera oder einen Fotoapparat mit sich führe; auf dem Gelände sei es verboten, Aufnahmen zu machen. Sie musterten seine Papiere und baten ihn dann sehr höflich um die Erlaubnis, ihn zu durchsuchen. All diese Kontrollen waren absurd. Er wollte bei einer Gemeinschaft, die sich völlig harmlos gab, ein Chorkonzert besuchen. Der Armenier ließ die Prozedur über sich ergehen. Das war nicht der Augenblick, um aufzufallen. Die bloße Tatsache, dass er eigens aus Paris anreiste, war schon bemerkenswert genug.
    Die beiden Wächter bedankten sich beim ihm. Die Widersprüchlichkeit war unübersehbar: Milde und Höflichkeit einerseits, Leibesvisitation und Rasierklingen andererseits. Kasdan stieg wieder in seinen Wagen. Mit einem seltsamen Gefühl fuhr er durch das Portal. Neugierde, gemischt mit Befürchtungen …
    Er fuhr jetzt über das Gelände der Kolonie und konnte ermessen, wie groß es war. So weit das Auge reichte, sah man nur bestellte Felder, die geometrische Formen bildeten, genauso scharf abgegrenzt wie die legendären Kornkreise. In dieser Jahreszeit waren die meisten Nutzflächen schwarz, einige mit Plastikfolien überzogen. Außerdem gab es kurz geschnittene Wiesen – vielleicht Weiden für irgendeine Viehzucht. Silos zeichneten sich am Horizont wie silberne Campanile ab.
    Er fuhr mehrere Kilometer durch die Felder. Kasdan hatte die Seiten auf der Website von Asunción ausgedruckt, aber nicht die Zeit gehabt, sie zu lesen. So wusste er nicht, welchen landwirtschaftlichen Tätigkeiten sich die Anhänger Hartmanns widmeten. Selbst mitten im Winterschlaf atmeten diese Ländereien eine tiefe Fruchtbarkeit. Er erkannte hier die Üppigkeit Lateinamerikas und die Fülle der Neuen Welt. Als hätten die Chilenen die Größe und Frische ihres Heimatlandes mitgebracht. Unverbrauchte, ungeduldige Erde, in der noch der kleinste Same reiche Ernte verhieß.
    Eine weitere Umzäunung tauchte auf. Eine Art Palisadenwand. Die Mauer schlängelte sich durchs Unterholz und schmiegte sich wie eine kleine Chinesische Mauer an das Relief der Hänge. Kasdan dachte an die Seyal-Akazie und an die Stöcke der Kinder. Zwar war diese Wand nicht aus so seltenem Holz erbaut, aber er hätte trotzdem gewettet, dass es sich um eine edle Sorte handelte, die einen Schutzwall gegen die moderne Zivilisation und ihre Unreinheit bildete. Die Gemeinschaftsgebäude der Kolonie

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