Choral des Todes
nächtlichen Spiels, die Bedrohlichkeit dieser Gestalten, die Erinnerungen an die Kindheit wachriefen und dabei nur Inkarnationen der Mordlust waren. Er war in der Höhle des Albtraums. Unter diesen Sängern mit Velingesichtern waren diejenigen, die Régis Mazoyer zu Tode gefoltert hatten. Die »Kindgötter« Volokines, die Mörder Hartmanns, die Engel von dämonischer Reinheit …
KAPITEL 62
»K.o. in der vierten Runde. Sieger: Olivier Messiaen.«
Kasdan fuhr aus dem Schlaf auf. Ein Gesicht schwebte über ihm. Ein Mann von etwa sechzig Jahren, eckiges Gesicht, dicker Hals, sehr kurze graue Haare. Kasdan spürte seine schwere Hand auf seiner Schulter. Im nächsten Moment schon saß er wieder kerzengerade auf seiner Bank. Der Saal war leer.
»Ich fürchte, ich habe nicht einmal bis Pergolesi durchgehalten«, murmelte er, »es tut mir leid.«
Der Mann trat lächelnd zurück. Er war nicht groß, aber korpulent. Statt der schwarzen Jacke der Sippe trug er einen zweireihigen anthrazitfarbenen Anzug, der die Strenge einer Uniform besaß.
»Wahl-Duvshani!«, stellte er sich vor. »Ich bin einer der Ärzte des Krankenhauses.«
»Tut mir wirklich leid«, sagte Kasdan noch einmal, während er aufstand und allmählich zur Besinnung kam.
Der Arzt hielt ihm seinen Ausweis hin. Kasdan las den Doppelnamen. Schwer, die Herkunft zu erraten. Als hätte er seine Gedanken gelesen, fügte Wahl-Duvshani hinzu:
»Ein komplizierter Name, so kompliziert wie meine Geschichte.«
Er deutete auf die Doppeltür, von wo das dumpfe Stimmengewirr eines Cocktailempfangs zu hören war:
»Kommen Sie mit auf ein Glas. Ein bisschen Bier wird Ihnen guttun.«
»Bier?«
»Wir stellen es selbst her.«
Besser als mit diesem »wir« hätte sich der Mann nicht vorstellen können. Wahl-Duvshani gehörte der Sekte an. Er war sogar eines ihrer führenden Mitglieder. Kasdan folgt ihm bereitwillig. Die Türen gingen auf. Da war das Publikum, stehend, ein Glas in der Hand, lächelnd und plaudernd. Ein Weihnachtsempfang in einem Provinz-Rathaus, wie sie sich gerade überall in Frankreich ereigneten.
Der Arzt drängte Kasdan unter die Gäste und flüsterte ihm zu:
»Trinken Sie. Essen Sie. Stärken Sie sich!«
Kasdan wandte sich dem Buffet zu. Junge Leute von androgynem Aussehen standen hinter den Gläsern und den Platten.
»Was wünschen Sie, Monsieur?«
Diesmal glaubte er zu verstehen, was ihm an den Stimmen missfiel. Er antwortete:
»Ein Bier, bitte.«
Der Junge öffnete eine Flasche ohne Etikett. Kasdan versuchte ihn zum Reden zu bringen.
»Wie geht’s? Ist es nicht anstrengend, die ganze Zeit zu stehen?«
»Wir sind es gewohnt«, sagte der Junge, während er das Bier in ein Glas ausschenkte.
»Veranstalten Sie häufig Empfänge?«
»Nein.«
Er reichte dem Armenier das Glas, um ihm zu bedeuten, dass das Gespräch damit zu Ende sei, und kehrte ihm den Rücken. Kasdan hatte seine Antwort. Er wusste, woher sein Unbehagen rührte. Das Timbre der Stimme dieses Jungen war asexuell. Weder Mann noch Frau. Und alterslos. Kasdan malte sich das Schlimmste aus: Kastrationen oder Injektionen, die die Entwicklung der Sexualität bei den Kindern unterdrückten. Oder auch eine schmerzhafte Behandlung, die verhinderte, dass die Heranwachsenden in die Pubertät kamen – vergleichbar den Methoden der japanischen Meister, die das Wachstum von Bäumen so stark hemmen, dass die entsetzlich zwergwüchsigen Bonsai entstehen. Ja genau. Bonsai-Menschen ohne Sexualität …
Er trank einen Schluck Bier. Nicht schlecht. Gleich darauf überkam ihn ein anderer Gedanke. Er erinnerte sich an die amerikanische Sekte Heaven’s Gate, deren Mitglieder Ende der neunziger Jahre Selbstmord begangen hatten, um sich in ein Raumschiff zu versetzen, das hinter einem fernen Kometen auf sie wartete. Kasdan hatte den Artikel in Le Monde gelesen. Eine der Regeln der Sekte war die Aufhebung aller Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Alle Selbstmörder, die in einer Villa in Kalifornien entdeckt wurden, hatten die gleiche Frisur und trugen dieselben pyjamaartigen schwarzen Vietcong-Uniformen. Und die meisten Männer waren kastriert.
»Sie stammen wohl nicht aus der Gegend?«
Kasdan drehte sich um und entdeckte eine spindeldürre Gestalt, die fast genauso groß war wie er. Gewelltes, grau meliertes Haar, ein spitzes Mardergesicht. Der Mann trug einen hochwertigen dunkelblauen Anzug, dem man allerdings das Provinzielle anmerkte. Auch passten die hellbraunen Schuhe nicht zu dem
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