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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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unheimliche Sekte wie eine schwarze Aura umgab.
    Er hob die Kleider des Jungen auf. Steckte sie in die Waschmaschine. Während er das Programm einstellte – Waschen, Spülen, Schleudern, Trocknen –, traf er eine Entscheidung: Der Russe würde keinen Rückfall erleiden. Weil er jetzt da war. Der eine würde den anderen nicht mehr im Stich lassen.
    Der Armenier ging zurück ins Schlafzimmer und deckte den jungen Mann zu. Er erinnerte sich an David. Das Kind. Nicht an den Erwachsenen, der die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, nachdem er getönt hatte, er werde Armenien erobern. Er setzte sich an die Bettkante und wurde von einer Erinnerung übermannt. Der Notarzt, der eine einfache Grippe diagnostiziert hatte, war gerade aufgebrochen. Nariné war Medikamente kaufen gegangen. Er saß allein neben seinem Sohn auf dem Sofa, auf dem ihn der Arzt untersucht hatte. David, damals sechs Jahre alt, schlief; in sich zusammengekrümmt wie ein Fötus glühte er wie ein heißer Stein in einem Saunaofen.
    An diesem Tag war Kasdan etwas klar geworden. Weder die Krankheit noch eine andere äußere Kraft könnten seinem Sohn noch etwas anhaben. Er würde immer für ihn da sein. Dieser eingerollte kleine Körper hatte ihm ein Gefühl vermittelt, wie es in ähnlicher Weise eine Mutter empfinden muss, wenn sie ein Kind in sich trägt. Eine innige, unauflösliche Verbindung. Eine völlige Verschmelzung der Körper und des Blutes. Das Herz seines Sohnes schlug in seiner Brust. Das Fieber Davids glühte in seinem eigenen Körper. An diesem Tag hatte Kasdan seine Mission als Vater in ihrer ganzen Tragweite begriffen, und ihm war, als hätte er einen Treueeid abgelegt. Bei allem, was er von nun an tat, bei jeder Entscheidung, die er traf, würde das Wohl seines Sohnes im Vordergrund stehen. Jeder Atemzug, jeder Gedanke sollte dem kleinen Wurm gewidmet sein. Und wie vom ihm vorgegeben . Wie alle Väter war er jetzt das Kind seines Sohnes.
    Der Armenier stand auf und streifte seine Drillichjacke über. Steckte seine Schlüssel ein und fuhr los auf der Suche nach einer dienstbereiten Apotheke. Anstatt eines Rezepts seinen Polizeiausweis schwenkend, erhielt er mehrere Schachteln Subutex. Er wusste genug über Rauschgiftsucht, um die wichtigsten Heroin-Ersatzstoffe auseinanderzuhalten: Methadon und Buprenorphin, das unter dem Namen Subutex verkauft wurde.
    Buprenorphin hatte die gleichen Effekte wie Methadon, wirkte allerdings im Unterschied zu diesem nicht euphorisierend. Aber Kasdan wollte keinen durchgepfiffenen Polizisten mit sich herumschleppen.
    Zurück in seiner Wohnung suchte er den Schlüssel zu seinem Keller und stieg hinunter ins Untergeschoss des Gebäudes. Aus einem Karton zog er Klamotten von David – Pullover, Hemd, Jeans, die Volokine passen mussten. Er ging wieder hinauf in seine Wohnung. Die alten Kleider rochen nach Schimmel. Er machte noch eine Maschine Wäsche.
    Dann setzte er einen Wasserkessel auf, um sich eine Thermoskanne Kaffee zuzubereiten. Er litt noch immer an Hyperaktivität – das »Hai-Syndrom«: entweder sich bewegen oder sterben. Gleichzeitig lastete die Müdigkeit bleiern auf ihm. Auf der Rückfahrt von der Kolonie Asunción wäre er beinahe eingeschlafen. Wenn er seine Lider eine Sekunde lang schloss, erschienen sie ihm tonnenschwer.
    Er sammelte alle Aufzeichnungen, die er sich bisher zu dem Fall gemacht hatte, setzte seine Brille auf und ließ sich auf dem Sofa nieder, um das Ganze noch einmal durchzulesen. Diese Notizen enthielten zwangsläufig ein Detail, eine Tatsache, die eine Schwachstelle in der Festung enthüllen würde.
    Mehrere Sekunden lang betrachtete er das Glas, das er in einen versiegelten Beutel gesteckt hatte. Das Glas von Wahl-Duvshani, auf dem seine Fingerabdrücke waren und das er beim Weihnachtsempfang der Sekte heimlich hatte mitgehen lassen, nachdem es der Arzt auf die Theke gestellt hatte.
    Er wollte die Identität des Mannes überprüfen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er nicht derjenige war, für den er sich ausgab. Im Übrigen hatte er nichts gesagt, nur von seiner »komplizierten Geschichte« gesprochen. Mit etwas Glück waren seine Fingerabdrücke in den Datenbanken des Dezernats für die Fahndung nach flüchtigen Straftätern gespeichert …
    Er vertiefte sich in seine Lektüre. Eine Stunde später war er fertig. Er hatte nichts gefunden. Kasdan sah nach, ob Volokine immer noch schlief, und schaltete dann das Trockner-Programm ein. Dann ging er in sein Arbeitszimmer, nahm sein

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