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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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begreifen unsere Antworten nicht. Weil Sie keine Ahnung von den Fragen haben.«
    Kasdan schüttelte den Kopf. Um dem Gespräch eine neue Richtung zu geben, fragte er:
    »Ist Bruno Hartmann nicht da?«
    Wahl-Duvshani lachte hellauf:
    »Sie sind kein Polizist wie die anderen. Sie haben sich etwas Freimütiges, Offenes bewahrt.« Er lachte wieder und wiederholte für sich selbst: »Mich zu fragen, ob Bruno Hartmann da ist …«
    »Ich verstehe nicht, was an meiner Frage so komisch ist.«
    »Sie haben offenbar wirklich keine große Ahnung, Hauptmann? Kommissar?«
    »Kommissar Lionel Kasdan.«
    »Kommissar, Sie müssen wissen, dass sich seit mindestens zehn Jahren niemand damit brüsten kann, Bruno Hartmann in Person gesehen zu haben. Tatsächlich ist das auch ganz unerheblich. Allein sein Geist zählt. Sein Werk.«
    »Das sagte auch Pol Pot, als die Roten Khmer den Gipfel ihrer Macht erreichten. Allein Angkar zählte, die zerstörerische Kraft, die er ins Werk gesetzt hatte. Sie kennen das Ergebnis.«
    Der Arzt betrachtete sein Glas Bier. Die goldenen Farbtöne spiegelten sich in seinen blauen Augen, die im Widerschein des Bieres eine lindgrüne Farbe annahmen.
    »Für einen Polizisten besitzen Sie eine gewisse Bildung. Vielleicht hat sich Paris endlich entschlossen, uns fähige Leute zu schicken …«
    »Wo ist Hartmann?«
    Kasdan hatte die Frage in schneidendem Tonfall gestellt – so als wäre Wahl-Duvshani bereits in Polizeigewahrsam. Ein schwerer Fehler. Das Lächeln des Arztes erstarrte. Der Armenier war nur ein geduldeter Gast.
    »Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich es nicht weiß? Dass es niemand weiß?«
    »Nein.«
    »Trotzdem müssen Sie sich mit dieser Antwort begnügen.«
    Kasdan holte tief Luft. Er hatte dieses miese Versteckspiel satt. Das hier war ein Ort tiefster Verkommenheit, und er ließ sich durch diesen provinziellen Empfang mit seinem gedämpften Stimmengewirr und seinem läppischen Geplapper nicht ins Bockshorn jagen.
    Er hob sein Glas:
    »Sie haben es gesagt, Doktor: Ich bin kein gewöhnlicher Polizist. Ganz und gar nicht. Da werde ich mich nicht mit Ihrem wissenden Lächeln und Ihren verlogenen Antworten zufriedengeben. Sehen Sie mich an, und denken Sie an mich. Denn ich werde mit Verstärkung wiederkommen.«

KAPITEL 63
    »Du Idiot!«
    Volokine war auf dem Holzfußboden eingeschlafen, wobei er die Umhängetasche umarmt hatte. Auf seinem Hemd waren Flecken von Erbrochenem. Sein Schlaf roch nach Drogen. Die Spritze und der Teelöffel, die auf dem Nachttisch – seinem Nachttisch – lagen, bestätigten seinen Verdacht. Er hatte Lust, den Jungen durch Tritte aufzuwecken und ihn unter eine eiskalte Dusche zu stellen.
    Stattdessen zog er ihn unter den Achseln hinauf auf sein Bett. Er entkleidete ihn und säuberte ihn mit einem angefeuchteten Handtuch. Dann zog er die Bettdecke über ihn. Sein Zorn war schon verflogen. Ausgeschwitzt wie ein Fieber.
    Seit langem schon fällte er kein Urteil mehr über Menschen. Er glaube nicht mehr an Verrat, weil er nicht mehr an Treueschwüre glaubte. Im Grund war er Nihilist. Mit jedem Jahr, das vergangen war, hatte er sich, wie die Kurve eine Asymptote, immer weiter dem Vanitas vanitatum Bossuets angenähert, der sich seinerseits auf das Buch Koheleth bezog: »Ich habe mein Wissen immerzu vergrößert … ich erkannte, dass auch dies ein Luftgespinst ist.« Bossuet fügte hinzu, und diese Worte hatten Kasdan sein ganzes Leben keine Ruhe gelassen: »All unsere Gedanken, die nicht Gott zum Gegenstand haben, gehören dem Reich des Todes an.«
    Das einzige Problem bestand darin, dass es wohl sein Schicksal war, Gott nicht zu begegnen.
    Der Armenier betrachtete den schlafenden jungen Mann. Er begann sich bereits Vorwürfe zu machen. Wenn der Junge schwach geworden war, hatte er vielleicht einen triftigen Grund dafür. Vielleicht war es ja auch seine Schuld, weil er Volo sich selbst überlassen hatte. In dieser Sekunde sagte sich Kasdan, dass womöglich doch nicht alles Luftgespinst war. Und dieser junge, labile, kränkliche Drogensüchtige zeigte ihm den Weg. Mit seiner Wut, seinem Ungestüm, seiner Passion für die Wahrheit.
    Da blieb ein Kampf.
    Da blieb die Aufklärung dieser Mordfälle.
    Kasdan sah auf die Umhängetasche Volokines herunter. Vollgestopft mit Aufzeichnungen, Zetteln, Fotos und Zeitungsausschnitten. Nein, nicht alles war vergeblich. Es gab diese entführten Kinder. Diese Morde. Diese Verstümmelungen. Es gab das Leid, das diese

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