Choral des Todes
Notebook und setzte sich wieder aufs Sofa im Wohnzimmer. Er loggte sich in die Website der Kolonie ein. Die Hauptseiten hatte er gelesen, aber es gab vielleicht noch andere, die zu durchstöbern sich lohnte.
Der Armenier übersprang die Homepage und die allgemeinen Informationen und klickte auf GESCHICHTE , wo er eine messianisch gefärbte Vita von Hans-Werner Hartmann fand. Nichts Neues. Lediglich die Bestätigung, dass sich Hartmann und seine Clique tatsächlich für ein »auserwähltes Volk« hielten. Mit dem Deutschen in der Rolle des Moses. Allen, die nicht zur Gemeinschaft gehörten, waren Ägypter.
Mit brennenden Augen klickte Kasdan auf KNABENCHOR . Mehrere Einträge: AUFNAHMEBEDINGUNGEN , WIR ÜBER UNS , GESCHICHTE , SCHULBESUCH , DISKOGRAPHIE , KONZERTE … An diesem letzten Wort blieb er hängen. Der Chor der Kolonie Asunción trat auch außerhalb der Kolonie auf. Vielleicht war das die Bresche, die er suchte. Ein Berührungspunkt mit der Außenwelt.
Der Knabenchor gab jedes Jahr mehrere Dutzend Konzerte in Mittel- und Südfrankreich, genauer gesagt in den Regionen Lozère und Hérault, im Lubéron und in der Provence. Jedes Konzert fand in einer Kirche statt – in den Kirchen kleiner Ortschaften. Asunción wollte keinerlei Aufmerksamkeit erregen.
Kasdan ging die Jahre in umgekehrter Reihenfolge durch: 2006, 2005, 2004. Immer auf der Suche nach einem Zeichen, einem Detail, das die Bresche erweitern konnte. Alles, was er fand, war ein Name, der mehrfach erwähnt wurde. Die Kirche Saint-Sauveur in der Gegend von Arles.
Kurzentschlossen recherchierte er die Telefonnummer und rief bei der Pfarrei an. 22.00 Uhr. Dort musste es einen Pfarrer geben, den man aufwecken konnte. Nach fünfmaligem Läuten wurde abgehoben. Der Armenier stellte sich vor, ohne besondere Vorsicht walten zu lassen. Er sei Polizist von der Mordkommission und wolle Erkundigungen über den Chor der Kolonie Asunción einholen.
Die raue Stimme am anderen Ende der Leitung wirkte nicht sonderlich beeindruckt.
»Was genau wollen Sie wissen?«, fragte der Priester.
»Ist Ihnen nie etwas Eigenartiges an diesen Leuten aufgefallen?«
»Hören Sie. Ich wurde schon mehrfach über diese Gruppe ausgefragt. Vielleicht wird die Kolonie Asunción in Ihren Akten als ›Sekte‹ geführt. Ich kann Ihnen nur sagen, dass in den fast fünfzehn Jahren, in denen sie uns mittlerweile Besuche abstatten, nie etwas Schockierendes geschehen ist – und auch sonst nichts, was irgendwie erwähnenswert wäre. Wir empfangen jedes Jahr mehrere Chöre, und dieser unterscheidet sich nicht von den anderen.«
»Und die Kinder wirken auf Sie nicht sonderbar?«
»Meinen Sie die Kleidung?«
»Unter anderem.«
»Es ist eine religiöse Gemeinschaft, die sich an strenge Vorschriften hält. Ihre Glaubenslehre steht nicht in Einklang mit unserer katholischen Liturgie, aber wir haben das zu respektieren. Weshalb sollten wir diesen Sängern misstrauen? Sie machen einen ruhigen, disziplinierten Eindruck und scheinen gut eingespielt zu sein. Viele Leute in unseren modernen Städten könnten sich ein Beispiel daran nehmen. Gott kann mehrere Gesichter haben. Allein der Glaube …«
Kasdan unterbrach den Mann, um zu den praktischen Fragen zu kommen:
»Wie reisen die Sängerknaben zu einem Konzert an? In einem Bus?«
»Ja, in einem Bus. Einer Art Schulbus.«
»Fahren sie nach dem Konzert gleich wieder zurück, oder übernachten sie?«
»Sie übernachten. Wir haben einen Schlafsaal in der Nähe des Pfarrhauses.«
»Bekommen sie morgens von Ihnen ein Frühstück?«
»Natürlich. Ich verstehe nicht, warum Sie das fragen.«
Kasdan wusste es auch nicht. Er versuchte sich lediglich den Aufenthalt der Jungen vorzustellen.
»Keine besonderen Wünsche für das Frühstück?«
»Die Sängerknaben bringen ihre Lebensmittel selbst mit. Öko-Getreideflocken, die, glaube ich, aus eigener Produktion der Kolonie stammen.«
»Machen Sie den morgendlichen Appell?«
»Die Begleiter kümmern sich darum.«
»Geben sie Ihnen eine Liste mit den Namen der Kinder?«
»Ja.«
»Ja?«
»Das ist Vorschrift, wegen der Versicherungen.«
»Bewahren Sie diese Liste in Ihrem Archiv auf?«
»Ja, das heißt, ich glaube.«
»Hören Sie gut zu«, sagte Kasdan und atmete durch. »Ich möchte, dass Sie sämtliche Listen auftreiben, angefangen von ihrem ersten Konzert, und dass Sie mir diese an die Nummer faxen, die ich Ihnen gleich gebe.«
»Ich verstehe nicht. Brauchen Sie diese Auskünfte
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