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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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seinen Nacken gedrückt. Ich konnte nicht sprechen. Ohne es zu merken, hatte ich die ganze Nacht stumm geschrien, indem ich an meiner Faust knabberte. Ich stieß ihn in den Wald hinein. Wir marschierten lange. Er und ich wussten, dass wir in Richtung der Rebellen gingen. Mit jedem Schritt kamen wir ihnen näher, und jeder Schritt konnte unser letzter sein. Aber das war nicht schlimm. Ich würde mit ihm sterben. Es kam darauf an, die Krankheit in unserem Zug auszumerzen. Und Étienne Juva war bereits tot.
    Wir gelangten auf eine Lichtung. Eine kreisförmige Stelle, von Roterde bedeckt und von Bäumen und Sträuchern gesäumt. Lefèvre war ein langer Kerl von vierzig Jahren, spindeldürr, mit einer Halbglatze. Als er sich umdrehen wollte, habe ich ihm den Griff meiner Pistole ins Gesicht geschlagen. Er ist hingefallen. Ich habe wieder zugeschlagen. Er hat das eingesteckt, ohne einen Mucks von sich zu geben. Vielleicht fürchtete er, dass die Rebellen uns bemerken würden. Oder es war sein Stolz als Soldat, ich weiß es nicht.
    Ich hab so stark zugeschlagen, dass der Kolben zersplitterte. Ich habe meine Waffe weggeworfen und mit Fußtritten weitergemacht. Lefèvre versuchte aufzustehen. Jedes Mal versetzte ich ihm einen Tritt mit dem Stiefel. Sein Gesicht war wie durchpflügt, wie umgegraben. Eine breiige Masse aus Fleisch und Erde.
    Er rührte sich nicht mehr, aber er lebte noch. Ich habe weiter auf ihn eingeschlagen. In den Rücken, in den Magen, ins Gesicht. Dann habe ich versucht, durch gezielte Tritte mit den Absätzen alles zu zertrümmern, was sich zertrümmern ließ. Den Schädel, die Backenknochen, die Rippen, die Wirbel. Ich dachte an die Kinder in den Flammen. An die Frauen und die Kinder in den Hütten. Ich schlug immer wieder zu, bis ich spürte, wie die Knochen unter meiner eisernen Faust zersplitterten. Schließlich habe ich aufgehört. Ich weiß nicht, ob er tot war, aber er war kein Mensch mehr. Nur noch ein Haufen blutiges Fleisch.
    Nachdem ich mein Zittern einigermaßen in den Griff gekriegt hatte, habe ich den Benzinkanister, den ich mitgebracht hatte, geöffnet und die Überreste von Lefèvre mit Benzin übergossen. Ich hatte ein Zippo-Feuerzeug dabei – ein Geschenk meines Vaters vor meiner Abreise. Ich wusste, dass ich meine Familie nie mehr wiedersehen würde. Ich habe das Feuerzeug angezündet und es auf die Leiche geworfen.
    Durch den Regen kam ich wieder zu mir. Ich war noch am Leben. Die Rebellen hatten sich nicht blicken lassen. Das Lager war Lichtjahre entfernt. Und Hauptmann Lefèvre war nur noch ein verkohltes Stück Fleisch, halb Asche, halb Gerippe, bereits von den schlammigen Strömungen fortgespült. Ich floh Richtung Westen. In zwei bis drei Tagen würde ich die Grenze zu Nigeria überschreiten.
    Auf meinem Weg trank ich das in Lianen gespeicherte Wasser und aß den Maniok, den ich mitgenommen hatte. Ich bin der Piste gefolgt. Ich bin durch Geisterdörfer gekommen. Ich habe in den Nächten gezittert, in denen Insekten über mich herfielen. Tausendmal bin ich zusammengefahren, weil ich fürchtete, auf die Typen von der UPC oder einen Trupp unserer Soldaten zu stoßen. Doch ich bin weitermarschiert. Nach drei Tagen erreichte ich den Fluss Cross. Ich habe einen Fischer bezahlt, der mich über die Grenze brachte, durch ein Labyrinth toter Flussarme hindurch. Anschließend bin ich weiter Richtung Süden marschiert, bis zur Stadt Calabar in Nigeria. Von dort bin ich nach Lagos geflogen und von Lagos nach London – Nigeria ist anglophon.
    Den Rest kennst du. Der Mann, der in London ankam, hieß Lionel Kasdan. Ich hatte ein Projekt. Der wahre Kasdan, der vor meinen Augen fiel, sprach häufig von einem Kloster auf einer Insel in der Nähe von Venedig, das armenischen Mönchen gehörte. Falls er lebend zurückkehrte, so hatte er sich geschworen, würde er sich dort verkriechen und in die Kultur seines Volkes vertiefen. Ich habe sein Versprechen gehalten. Von London aus bin ich nach Italien gereist und ins Kloster San Lazarro dei Armeni eingetreten. Die Mönche, die Bücher und die Steine des Klosters waren die einzigen Zeugen meiner Verwandlung. Als ich 1966 von dort wegging, war ich, im Innersten, Armenier geworden. Ich habe die Aufnahmeprüfung für den Polizeidienst bestanden, und das war’s.«
    Nach einem langen Schweigen murmelte Volokine:
    »Ich erinnere mich. In einem dieser armenischen Blättchen haben Sie über Ihre Erinnerungen an diese Zeit geschrieben. Ein Satz hat mich

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