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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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beeindruckt. Ein poetischer Satz: ›Im Schatten des Campanile, in der Stille der Rosensträucher bin ich den Konturen und den Ziselierungen des armenischen Alphabets gefolgt und habe darin die Linien der Blütenblätter, der Steine und der Wolken der Außenwelt wiedergefunden‹ …«
    »Ich log nicht. Seit jener Zeit habe ich nie mehr gelogen. Lionel Kasdan war wieder zum Leben erwacht. Er ist nie mehr von seiner Linie abgewichen, der Jagd auf das Böse, welche Gestalt das Böse auch annehmen mag.«
    Volokine murmelte in einem seltsamen Tonfall, einer Mischung aus Widerwillen und Verständnis:
    »Sie sind ja nicht ganz bei Trost.«
    »Das hat der Krieg aus mir gemacht. Ich schwöre dir, bevor ich mit siebzehn nach Afrika kam, war ich ein völlig ausgeglichener Junge. Dieser Krieg war mein Elektroschock. Er hat die Chemie meines Gehirns aus dem Gleichgewicht gebracht. Seit jener verfluchten Zeit durchlebe ich eine Folge von Krisen, Albträumen und Ängsten. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin vor allem ein Opfer. Das gewöhnliche Opfer außergewöhnlicher Umstände. Es sei denn, es wäre umgekehrt. Das außergewöhnliche Opfer von Umständen, die in all ihrer Abscheulichkeit nur die gewöhnliche Gewalttätigkeit des Menschen zum Vorschein gebracht haben.«
    Der junge Russe drehte den Zündschlüssel um:
    »Ich bringe Sie nach Hause.«

KAPITEL 67
    Nacht.
    Sein erster Gedanke. Der zweite: Er war noch einmal davongekommen. Er hatte großes Glück gehabt. Ein bleischwerer Schlaf. Ohne Träume. Ohne Dauer. Er wusste weder, in welchem Jahr er aufgewacht war, noch, wo er sich befand. Im Jahr 1962 auf den Pisten von Bafoussam? Oder im Jahr 2006 in seiner Wohnung?
    Er hob den Kopf und sank dann, mit steifem Nacken, wieder zurück. Andere Empfindungen wurden deutlicher. Der Mund voller Asche. Ein schrecklicher Durst. Er war in seinem Bett. Gestern Abend hatte er sich einen besonderen Cocktail gebraut. Ein Schlafcocktail. Xanax. Stilnox. Loxapine. Jeweils eine Tablette, mit einem kräftigen Schluck Mineralwasser hinuntergespült.
    Die Wirkung setzte sofort ein. Die Moleküle hatten sich in seinem Körper aufgelöst und verstärkten sich gegenseitig wie magnetische Wellen; sie umhüllten all seine Nervenverästelungen mit einem anästhesierenden Gel, das seine mentalen Schaltkreise verlangsamte und den ganzen Organismus in eine Trägheit versetzte, bis er einschlief.
    Jetzt spürte er, tief in seinem Innern, etwas anderes. Ein Gefühl der Reinheit, das ihn vom Kopf bis zu den Füßen erfüllte. Ein funkelnder Schnee von vollkommener Klarheit überzog seine Seele. Eine durchscheinende Stille hüllte sie ein. Woher kam dieses Gefühl der Jungfräulichkeit? Das Bild Forgeras’, der im Schlamm zusammenbrach, ließ ihn zusammenzucken. War es sein Verbrechen, das ihn jetzt beruhigte? Nein. Diese sinnlose Tat war nur die blinde Entfesselung einer Wut, die nie abgekühlt war. Ein Durst nach Rache, der über die Jahre hinweg nicht nachgelassen hatte.
    Er hatte weder Erleichterung noch Befriedigung daraus gezogen. Er musste es tun, das war alles. Im Namen der Vergangenheit. Im Namen der Kinder, die in der Krankenstation verbrannt waren. Der Frauen, die in den Hütten vergewaltigt worden waren. Er musste die Arbeit, die vor vierzig Jahren im Dschungel begonnen hatte, zu Ende führen.
    Das Gefühl der Reinheit kam anderswoher.
    Er hatte gesprochen. Er hatte sein Verbrechen gestanden. Diese unbeschreibliche Tat, die er bislang niemandem hatte anvertrauen können, weder Gott noch seinem Therapeuten noch Nariné. Er hatte diesen vergifteten Pfropfen, der ihm all die Jahre im Hals gesteckt hatte, Volokine vor die Füße gespuckt. Die Worte waren aus ihm hervorgesprudelt; sie hatten seinem Schmerz konkrete Gestalt gegeben und ihn zugleich davon befreit. Jetzt fühlte er sich tatsächlich vollkommen rein und geläutert. Alles konnte von neuem beginnen.
    Ein Geräusch in der Wohnung. Nicht von der Wanduhr, nicht von der Armbanduhr. Und die Tür zu seinem Zimmer war zu. Er lauschte. Klirren. Klappern. Jemand war in der Küche zugange.
    Er rief:
    »Volo?«
    Als er aufwachte, war das Zimmer hell. Durch das Fenster sickerte trübes Tageslicht herein. Verquollenes Gesicht. Klamotten, über den Sessel verstreut, in der Nähe des Betts. Und noch immer, tief in ihm, die Erleichterung. Obwohl ihm der Schädel von den Schlafmitteln dröhnte, obwohl er gestern einen Menschen ermordet hatte, fühlte er sich an diesem Morgen leicht. Leicht und

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