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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Mosaiksteinchen zusammen. Ebenfalls zu Beginn der Ermittlungen hatte er mit einer Betreuerin in einem Jugendwohnheim in Épinay-sur-Seine gesprochen. Die Frau hatte ihm mitgeteilt, Cédrics Großvater habe die Vormundschaft über seinen Enkel zurückerlangt, als dieser etwa zehn war. Sie hatte hinzugefügt, der alte Mistkerl habe dies in der Hoffnung getan, staatliche Unterstützungsleistungen zu kassieren.
    Es gab noch eine andere Möglichkeit.
    Cédric war den Männern der Kolonie, die immer auf der Suche nach jungen Talenten waren, wegen seiner herrlichen Stimme aufgefallen. Sie hatten sich an den Großvater gewandt und ihm einen Handel vorgeschlagen. Das Kind gegen Geld. Der alte Russe hatte seinen Enkel an die Sekte verkauft. Der Junge hatte zwei Jahre in der Hölle gelebt. Er hatte sich an die Regeln der Gemeinschaft gehalten. Er hatte im Knabenchor gesungen. Dann war er freigekommen. Vielleicht nach seinem Stimmbruch. Oder aber er war geflohen. Wie Milosz.
    Ein Teil passte nicht in dieses Puzzle. Allem Anschein nach hatte Volokine während der Ermittlungen nichts über die Sekte gewusst. War der Russe ein so guter Schauspieler, oder hatte er unter der Wirkung eines Schockerlebnisses sein Gedächtnis verloren? Kasdan tendierte zur zweiten Möglichkeit. Das traumatisierte Kind erinnerte sich nicht mehr an die Kolonie Asunción, aber die innere Wunde war nicht geheilt. Sie hatte Volokine unbewusst dazu veranlasst, Kinder, die Misshandlungen erlitten, zu beschützen. Dieses Trauma hatte ihn auch heroinabhängig gemacht.
    Kasdan zerknüllte die Liste. Er schwor sich, Volokine nicht nur aus diesem Wespennest, sondern auch aus seiner Neurose herauszuholen. Wenn sie den Fall aufgeklärt hätten, wäre der Russe frei, so wie er selbst sich von seinen Ängsten befreit hatte.
    Bei diesem Gedanken überkam ihn Panik.
    Er begriff jetzt die Dringlichkeit der Lage. Volokine hatte sich nicht nur in die Höhle des Löwen begeben, der Löwe würde ihn auch wiedererkennen! Hatte der Russe denn sein Gedächtnis völlig verloren? Oder wollte er bei klarem Verstand das Risiko eingehen, von seinen ehemaligen Folterknechten erkannt zu werden? Hatte er beschlossen, sich ganz allein an denjenigen zu rächen, die ihm so schlimme Gewalt angetan hatten?
    In seiner Notiz hatte der Junge geschrieben: »Ich bin in der Kolonie, um zu tun, was getan werden muss.« Die Wahrheit lautete offenbar: Auf irgendeine Weise hatte der Junge im Lauf der Ermittlungen sein Gedächtnis wiedergefunden. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass er sich vor zwei Tagen etwas gedrückt hatte. Oder war es umgekehrt so, dass diese Injektion ihm das Gedächtnis zurückgegeben hatte … Auf alle Fälle wollte Volokine jetzt seine offenen Rechnungen begleichen.
    Kasdan stopfte das zerknitterte Thermopapier in seine Tasche, kehrte in die Diele zurück und hob seine Tasche vom Boden auf.
    Er öffnete die Tür und blieb stehen.
    Drei Männer standen auf der Schwelle.
    Er kannte nur einen von ihnen: Marchelier.
    Alias »Marchepied«.
    Die beiden anderen standen links und rechts von Marchelier und trugen Lederjacken.
    Das Trio glich einem Trupp mordlüsterner Müllmänner. Drei Musketiere, deren Waffen unter ihren Rockschößen hinausragten. Jeden anderen hätte ihr Anblick eingeschüchtert, nicht so Kasdan. Binnen einer Sekunde begriff er die Ironie der Situation. Die drei Hampelmänner waren zu dieser frühen Morgenstunde erschienen, um Rechenschaft von ihm zu verlangen, und sie würden ihn aufhalten.
    »Siehst schlecht aus, Doudouk«, sagte Marchelier, »musst mit den Joints aufhören.«
    »Was wollt ihr?«
    »Bittest du uns nicht rein?«
    »Bin gerade etwas in Eile.«
    Der Typ von der Mordkommission blickte auf Kasdans Tasche hinunter:
    »Verreist du?«
    »Weihnachten. Du weißt doch, was das ist, oder?«
    »Nein.«
    Marchelier, die Hände in den Taschen vergraben, machte einen Schritt nach vorn.
    »Ich sag euch doch, dass ich keine Zeit habe!«, rief Kasdan.
    Marchelier schüttelte lächelnd den Kopf. Ein Mann mit einem kleinen Gesicht, auf dem sich gerade ein Höchstmaß an Feindseligkeit malte.
    »Die Zeit ist eine Frage des guten Willens. Wo eine Wille, da ein Weg.«
    Das Trio nahm den gesamten Raum im Flur ein. Marchelier warf einen Blick nach rechts:
    »Rains. Inlandsgeheimdienst.«
    Dann nach links:
    »Simoni. Verfassungsschutz.«
    Schweigen. Marchelier fuhr fort:
    »Also, bietest du uns jetzt einen Kaffee an oder nicht?«
    Kasdan machte einen Schritt zurück

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