Choral des Todes
gewisser Weise regten ihn diese Geistesblitze auch an.
Er wühlte in seiner Umhängetasche. Fand die Streichholzschachtel. Schlüpfte in seine Drillichjacke, zog statt seiner Treter seine Basketballschuhe an und schlängelte sich langsam, sehr langsam durch das Labyrinth der Betten. Endlich erreichte er die Tür. Wagte einen Blick. Niemand im Flur.
Er glitt ins Halbdunkel und bewegte sich Richtung Ausgang. Rote Nachtlichter erhellten den Raum mit einem schwachen Leuchten und enthüllten die Höhe der Decke. Mindestens zehn Meter. Der Schlafsaal war nach demselben Modell wie die Scheunen und Lagerhallen erbaut. Zusammenhängende Gebäude aus Holz, offen bis zum Dachstuhl, der seinerseits von metallenen Kreuzrippen getragen wurde.
Er trat über die Schwelle und verharrte einen Moment im Schatten der Tür. Der schräge Strahlenkegel eines Scheinwerfers war auf die Freitreppe gerichtet. Zweifellos wurde diese ausgeleuchtete Stelle ununterbrochen von einer Kamera gefilmt. Volokine entschied sich für die einfachste Lösung. Er rannte so schnell er konnte durch den Lichtkegel. Eine Sekunde später befand er sich auf dem in Dämmerlicht gehüllten Weg. Er sprang in den Graben am Rand des Wegs und überlegte. Alles, was die Kamera aufgezeichnet hätte, wäre ein flüchtiger Schatten. Unmöglich, ihn zu identifizieren. Und eine echte Chance, dass die Wächter – falls es Wächter gab – diese flüchtige Erscheinung gar nicht bemerkt hatten.
Volokine ging zurück auf den Weg. Auf dem Gelände musste es von unsichtbaren Sensoren nur so wimmeln. Infrarotstrahlung. Wärmebildkameras. Vielleicht war er bereits entdeckt worden. Vielleicht aber misstrauten die Führer der Kolonie ihren Arbeitern doch nicht so sehr und verzichteten deshalb auf allzu drakonische Sicherheitsvorkehrungen. Er musste weiter. Das war das beste Mittel, um das Ausmaß der Überwachung festzustellen und herauszufinden, wie lange die Mistkerle brauchten, um zu reagieren.
Er folgte dem Weg nach Westen ins Zentrum der Kolonie. Ab und zu erspähte er von der Spitze eines Hügels die schwachen Lichter des Krankenhauses, die wie ein kleiner Gluthaufen leuchteten.
So marschierte er eine Stunde – und legte dabei in der sanft geschwungenen Hügellandschaft zweifellos zwischen vier und fünf Kilometern zurück. Ringsherum sah er weitere Hügel in der Dunkelheit. Und manchmal auch große Gebäude aus Holz und die silbergrauen Achsen der Silos. Das Gras knisterte unter seinen Schritten wie harter Schnee. Im Mondschein schimmerte die ganze Landschaft wie ein Quarz mit funkelnden, lang gestreckten Kristallkörpern.
Volokine fühlte sich wohl. Geschützt vor den Blicken, im belebenden nächtlichen Wind. Wie alle entflohenen Häftlinge spürte er eine Art geheime Geborgenheit im Wind, in der Kälte und der Finsternis. Er spürte die Milliarden von Sternen, die, unerschütterlich, aber wohlwollend, hoch oben am Himmelszelt standen. Angesichts der unendlichen Erhabenheit des Kosmos empfand er die ganze Lächerlichkeit der Anstrengungen dieser Sektenführer, hier eine geschlossene, überwachte, perfekt kontrollierte Welt zu schaffen.
Das erste Hindernis tauchte auf. Die Holzwand, die die Gemeinschaftsgebäude des Anwesens umgab: die Klinik, die Kirche, das Konservatorium … Volokine betete, dass sein Plan aufging.
In diesem Moment durchbrach das Geräusch eines Wagens die Stille der Nacht. Volokine hechtete in den Graben und wartete. Die Scheinwerfer. Der Motor. Eine Patrouille. Er wartete weiter. Fünf Minuten. Dann verließ er sein Versteck. Er war zweihundert Meter vom Tor entfernt, das sich in den Lichtkegeln mehrerer Scheinwerfer abzeichnete. Kein Wachposten in der Nähe der Torflügel. Ein rein elektronisches System. Bei dem Gedanken, dass seine Strategie aufgehen könnnte, wurde ihm richtig heiß.
Als er nur noch vierzig, fünfzig Meter vom Portal entfernt war, sprang er abermals in den Graben und griff nach seiner Streichholzschachtel. Er öffnete sie, kippte den Inhalt der Schachtel aus und steckte die Streichhölzer in seine Tasche. Am Schachtelboden löste er die erste Kartonschicht ab und zog den transparenten dünnen Film heraus, den er darunter versteckt hatte.
Dieser Film war sein Schlüssel, um sich Zugang zur Kolonie zu verschaffen.
Vor Jahren hatten die deutschen Hacker vom Chaos Computer Club ihm nicht nur beigebracht, wie man die Sicherheitssysteme eines Computers knackt. Sie hatten ihm auch gezeigt, wie man die biometrischen Systeme
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