Choral des Todes
…«
»Es stimmt«, unterbrach er sie, erstaunt über die Geistesgegenwart der schlaftrunkenen Frau. »Ich habe keine offizielle Funktion in diesem Fall, aber das Opfer war ein Freund von mir, verstehen Sie?«
Schweigen als Antwort. Kasdan nutzte die Gelegenheit, um fortzufahren:
»Ich kann Sie nicht mit Argumenten überzeugen, aber ich bitte Sie, mir zu vertrauen.«
»Weshalb rufen Sie mich mitten in der Nacht an?«
Ihre Stimme klang äußerst gereizt.
»Weil ich glaube, dass Sie – und Sie allein – den Schlüssel zur Aufklärung dieses Mordes besitzen.«
»Was?«
»Als Sie zum ersten Mal über die Zerstörungen sprachen, die die Tatwaffe anrichtete, haben Sie diese mit den Auswirkungen einer Schallwelle verglichen.«
»Ich erinnere mich.«
»Ich glaube mittlerweile, dass es sich tatsächlich um eine Schallwelle handelt.«
»Wie das?«
»Eine Schallwelle kann das Trommelfell verletzen, oder?«
»Ja, die Schädigung beginnt aber erst ab einem Schallpegel von hundertzwanzig Dezibel. Viele Schallquellen erreichen eine solche Lautstärke. Ein Presslufthammer erzeugt einen Schall mit einem Pegel von hundert Dezibel.«
France Audusson sprach genauso klar wie am helllichten Tag.
»Kann eine menschliche Stimme diesen Schallpegel erreichen?«
»Das Stimmorgan einer Sängerin überschreitet leicht die Grenze von hundertzwanzig Dezibel.«
»Das passiert, wenn sie mit der Kraft ihrer Stimme ein Glas zum Zerbersten bringt.«
»Genau. Eine Schallwelle dieser Stärke zerstört die Kristallmoleküle.«
»Ist die Tonhöhe von Bedeutung?«
»Nein. Es kommt auf den Schalldruckpegel an. Den blast , wie man im Englischen sagt.«
Kasdan musste seine Theorie korrigieren. Die Schallwellen, die der Stimmapparat eines Knaben erzeugte, wurden nicht aufgrund der Stimmlage, sondern einzig aufgrund ihrer Stärke so weit getragen.
»Ich verstehe Ihre Fragen nicht. Sie wecken mich mitten in der Nacht und …«
»Ich glaube, dass Wilhelm Götz durch einen Schrei getötet wurde.«
»Das ist absurd. Diese Geschichten über tödliche Schreie sind Legenden, die …«
»Durch Übung ist es Männern gelungen, bei Kindern einen Ton dieser Stärke zu erzeugen. Ein Schrei, der die Trommelfelle zum Platzen bringt und das Gleichgewicht der Nervensysteme zerstört. Sie selbst haben mir diese Mechanismen erklärt …«
France Audusson seufzte ungläubig:
»Die ausgesandten Schallwellen müssten schon außergewöhnlich stark sein …«
»Die Männer, von denen ich spreche, erzielen diese außergewöhnliche Lautstärke bei den Knaben dadurch, dass sie sie foltern. Eine aberwitzige Waffe, die die Kinder anschließend beherrschen und nach Belieben einsetzen können.«
Die Expertin antwortete nicht. Der Albtraum bemächtigte sich ihres Geistes.
Diesem Schweigen entnahm Kasdan die Zustimmung, die er suchte.
Er verabschiedete sich von der Frau und legte auf.
Er drehte den Zündschlüssel.
Wilhelm Götz.
Naseerudin Sarakramahata.
Alain Manoury.
Régis Mazoyer.
Sie alle waren durch Schreie getötet worden.
Kasdan ließ die Kupplung kommen und fuhr auf den Autobahnzubringer.
In wenigen Stunden würde er die Kolonie erreichen.
Das Reich des Schreis.
KAPITEL 74
Der brennende Schmerz des Elektroschocks ließ ihn aus dem Schlaf hochfahren.
Volokine richtete sich, schnaufend und schweißbedeckt, in seinem Kabinenbett auf. Er hatte geträumt. Nein. Er hatte sich erinnert. Ganz einfach. Aber vor allem war er eingeschlafen, verdammt! Das war im Programm nicht vorgesehen. Überhaupt nicht. Er blickte auf seine Uhr. Vier Uhr morgens. Noch genug Zeit, um zu handeln. Er lauschte. Die Stille lastete auf dem dunklen Schlafsaal.
Der große Saal glich einem extrem sauberen Obdachlosenheim. Etagenbetten standen aneinandergereiht zu beiden Seiten des Saals, mit einer weiteren Bettreihe in der Mitte. Der Abstand zwischen den Betten betrug nicht mehr als einen Meter. Volokine hatte ein unteres Etagenbett ausgewählt, um leise und ohne Aufsehen aufstehen zu können.
Volokine hatte sich angezogen unter die Decke gelegt. Er war erschöpft. Einerseits, weil er den halben Tag gearbeitet hatte, und andererseits, weil er sich vergeblich darum bemüht hatte, nicht einzuschlafen. Zugleich fühlte er sich elektrisiert und aufgeregt. Konzentriert auf sein Ziel. Dieser Zustand gab ihm Kraft. Er spürte keinerlei Entzugserscheinungen und auch kein Unwohlsein. Nur erschreckende Erinnerungen schossen ihm wie Funkentladungen unentwegt durch den Sinn. In
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