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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Finsternis einzutauchen. Öffentliche Toiletten boten ihm ihre Dienste an. Kasdan zog es vor, zwischen den Büschen zu verschwinden. Als er sein Geschäft erledigt hatte, ertönte ein Schrei über dem fernen Brausen der Autos.
    Der Schrei eines Vogels.
    Eine markerschütternde Klage, rau und gebrochen zugleich.
    Im Dickicht stehend, lauschte Kasdan.
    Das Röcheln hallte erneut wider und drang verzerrt durch die Nacht. Etwas Endgültiges lag darin.
    Kasdan verharrte noch einige Sekunden lang reglos und spürte, wie das Räderwerk in seinem Kopf wieder in Gang kam. Auf geheimnisvolle Weise nahm etwas Gestalt an. Etwas, was immer da gewesen war, seinem Bewusstsein zugänglich, das er jedoch nie hatte benennen können.
    Der Schrei.
    Das war der Schlüssel.
    Wieso hatte er nicht früher daran gedacht? Die Forscher der Sekte beschäftigten sich mit der menschlichen Stimme. Und bei diesen Forschungen ging es darum, eine Waffe zu entwickeln. Eine zerstörerische Kraft, die mit der Fähigkeit zur Lauterzeugung verbunden war.
    Das war ihr Projekt.
    Das Stimmorgan so steuern, dass daraus ein tödliches Werkzeug wurde.
    Weitere Elemente kamen dazu.
    Hartmann senior war fasziniert von dem Einfluss tibetanischer Gesänge auf Gegenstände. Ihm war aufgefallen, dass sie Blechinstrumente wie Hörner und Gongs in Schwingungen versetzten. Dann hatte er in Auschwitz die Angstschreie der Gefangenen erforscht. Er hatte völlig neue Phänomene beobachtet. Dabei ging es zweifellos um die indirekten Auswirkungen der Stimmen, die durch die Angst stark an Intensität zugenommen hatten, auf materielle Objekte. Glühbirnen, die platzten. Fensterzargen, die bebten. Ähnlich wie bei einer Sängerin, der es einzig durch die Kraft ihrer Stimme gelingt, ein Kristallglas zu zerschmettern …
    Hartmann hatte diese Schreie aufgezeichnet und ihre Intensität gemessen.
    Er hatte über Schallwellen gearbeitet und ihre Wirkung auf den menschlichen Organismus erforscht.
    Danach also hatte der Menschenfresser gesucht.
    Nach einem Schrei, der sich als Kriegswaffe eignete.
    Der Schrei, der tötet.
    Ein Mythos, der in allen Kulturen bekannt ist. Hans-Werner Hartmann hatte ihn zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht. Aus diesem Grund suchte er ein Kind mit reiner Stimme. Aus diesem Grund folterte er sie. Um extrem starke Schallwellen zu erhalten. Entladungen, die das Hörorgan des Menschen erreichen und es zerstören konnten. Durch ein unbekanntes Phänomen erzeugten die Stimmbänder der Knaben bei höchster Vibration eine tödliche Schallwelle.
    Als ob er an einem Faden zöge, erinnerte sich Kasdan an weitere Details.
    Die diese Spur bestätigten.
    Die Äußerung von France Audusson, der HNO -Expertin der Klinik Trousseau, als sie von der Nadel sprach, die die Schnecke im Gehör von Götz durchstochen hatte. »Sie hat sich wie eine sehr starke Schallwelle durch das Gehörorgan bewegt.«
    Kasdan hatte nicht an die einfachste Lösung gedacht.
    Die Tatwaffe war eine Schallwelle.
    Aus diesem Grund waren in den Hörorganen der Opfer keine Stoffspuren gefunden worden. Das Werkzeug war immateriell gewesen.
    Ein weiteres Detail, ein weiteres Beweisstück. Als er auf die Empore der Kathedrale gestiegen war, hatte er einen gellenden Ton in den Orgelpfeifen gehört. Er hatte geglaubt, dass es sich um das Echo des Schreis von Götz handelte, der vor Schmerzen gestorben war.
    Doch es war genau umgekehrt.
    Es war der Nachhall des Schreis, der ihn getötet hatte.
    Der Schrei, den eines der Kinder ausgestoßen hatte.
    Ein schreiendes Kind, das die tödliche Waffe beherrschte.
    Ein Ton, der so dicht, so stark war, dass er das Trommelfell derart in Schwingung versetzte, bis die Gehörknöchelchen zerbarsten und durch den dabei entstehenden Schmerz das innere Gleichgewicht der beiden Nervensysteme – des Sympathikus und des Parasympathikus – zerstört wurde. Das Herz blieb stehen. Der Blutkreislauf kam zum Stillstand. Das Gehirn arbeitete nicht mehr.
    Kasdan lief zu seinem Wagen, setzte sich ans Lenkrad. Griff nach seinem Handy.
    Er hatte die Nummer von France Audusson gespeichert.
    Um drei Uhr morgens antwortete die Frau nach sechsmaligem Läuten.
    »Hallo?«
    »Guten Abend. Hier spricht Kommissar Lionel Kasdan. Tut mir leid, dass ich Sie um diese Uhrzeit belästige …«
    »Wer?«
    »Kasdan. Ich leite die Ermittlungen im Mordfall Wilhelm Götz. Ich habe Sie aufgesucht, um …«
    »Ich erinnere mich. Sie haben mich angelogen. Andere Polizisten haben mich später befragt und

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