Choral des Todes
überlisten kann, die heute in der Welt wachsende Verbreitung finden.
Vor allem hatte er von ihnen gelernt, wie man gefälschte Fingerabdrücke herstellte.
Bevor er zur Kolonie aufgebrochen war, hatte Volokine in einem Schreibwarengeschäft einige Artikel gekauft und war dann in seine Wohnung in der Rue Amelot zurückgekehrt. Dort hatte er Superkleber in den Hohlraum eines Stopfens gegossen und diesen dann mit Klebestreifen an dem Glas befestigt, das Dr. Wahl-Duvshani in der Hand gehalten hatte.
Beim Trocknen hatte der Kleber Dämpfe freigesetzt, die die fettigen Rückstände der Fingerabdrücke enthüllt hatten. Deutlich sichtbare Furchen unter einer weißen Schicht. Volo hatte die beste Spur ausgewählt und sie dann mit seiner Digitalkamera fotografiert. Er hatte das Bild auf seinem Rechner gespeichert und den maximalen Kontrast eingestellt, um das Muster so deutlich wie möglich zum Vorschein zu bringen. Dann hatte er es in ein Negativ umgewandelt. Weiße Linien auf schwarzem Grund.
Er hatte einen durchscheinenden Rhodoid in seinen Drucker eingelegt und anschließend den Abzug bearbeitet.
Anschließend hatte er das Blatt Transparenzpapier mit Holzkleber bestrichen und zwei Stunden gewartet, bis der Kleber beim Trocknen eine durchscheinende Schicht bildete. Vorsichtig hatte er den Film abgezogen, der jetzt als Positiv die Furchen des Fingerabdrucks trug. Jetzt musste er das Bild nur noch zurechtschneiden, um es, zu gegebener Zeit, an der Spitze seines Fingers zu fixieren.
Diesen gefälschten Abdruck hatte Volokine aus der Streichholzschachtel herausgezogen. Er legte ihn auf seinen Zeigefinger, wobei er sorgfältig darauf achtete, ihn nicht zu zerknittern, und schlich dann wie ein Fuchs aus seinem Versteck hinaus. Er trippelte bis zum Portal. Ging ein weiteres Mal durch den Lichtkegel hindurch. Drückte sich gegen den rechten Pfeiler des Tors. Wie erwartet entdeckte er im Innern der Säule eine Nische mit einer Öffnung in Fingergröße. Ein Schloss, das an ein Fingerabdruck-Lesegerät gekoppelt war.
Volokine legte seinen mit dem Film versehenen Finger ins Lesegerät.
Langsam öffneten sich die Torflügel.
Vor ihm kam die Klinik in den Blick. Ein riesiges, dreihundert Meter langes Gebäude mit einem gewaltigen abgestützten Vordach. Auf der rechten Seite zeichneten sich die Kirche mit ihrem Kirchturm aus Metalllamellen und das hölzerne Gebäude ab, bei dem es sich, wie er sich erinnerte, um das Konservatorium handelte – in dem er x-mal das Miserere geprobt hatte.
Er ging weiter. Linker Hand ein Parkplatz mit einigen Autos. Andere Gebäude, ebenfalls aus Holz, mit Dächern, die an ein Sonnensegel erinnerten. All dies glich einem Urlaubsort, der inmitten kleiner Wäldchen angelegt worden war. Ein einziges Detail verriet die feindselige Abschottung des Ortes. Der neue Drahtzaun und die auf Wachtürmen befestigten Scheinwerfer, die sich langsam drehten und den Stacheldraht funkeln ließen. Dahinter lag das Herz der Kolonie.
Einen großen Haken schlagend, ging er auf das Krankenhaus zu. Auf der rechten Seite des Gebäudes entdeckte Volokine eine Tür. Im Rahmen befand sich ein biometrisches Schloss. Wieder benutzte Volokine den Fingerabdruck. Die Tür ließ sich ohne Widerstand öffnen. Offensichtlich gehörte Wahl-Duvshani tatsächlich zum engsten Führungszirkel der Kolonie. Sein Fingerabdruck würde alle Türen öffnen.
Volokine schlüpfte in einen dunklen Flur. Im Augenblick wollte er nicht in den verschlungenen Korridoren der Klinik herumschnüffeln, sondern sich Zugang zum verbotenen Bereich für Kinder verschaffen. Eine weitere Brandschutztür. Ein weiterer Fingerabdruck-Sensor. Volo benutzte den gleichen Trick wie die ersten beiden Male. Er trat über die Schwelle und spürte körperlich, dass er eine Grenze überschritt. Die Grenze zwischen dem Stacheldraht draußen und allen Geheimnissen im Innern.
Er ging weiter. Das ferne Summen einer Klimaanlage drang an sein Ohr. Das Licht von Notausgangslampen, seine vom Linoleum verschluckten Schritte, die einförmig weißen Wände – alles machte einen behaglichen, betäubenden, fast einschläfernden Eindruck. Er konnte sich nicht an diesen Ort erinnern. Während seines Aufenthalts war er nie hier gewesen. Zweifellos war das der Grund, warum er noch lebte.
Er gelangte in eine weitere Eingangshalle. Das Spiegelbild der ersten. Der einzige Unterschied war, dass es hier keine Beleuchtung gab. Der Raum wurde nur von dem einfallenden Mondlicht erhellt.
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