Choral des Todes
Als man ihr das Kind wegnahm, konnte sie nicht mehr lesen und nicht mehr schreiben.«
»Weshalb hat der Großvater das Kind nicht behalten?«
»Weil er nicht mehr taugte als sein Sohn. Er war Russe. Ein widerlicher Kerl.«
»Hat er ihn im Heim besucht?«
»Hin und wieder. Ein schlechter Mensch. Verbittert, hasserfüllt. Ich war immer froh darüber, dass Cédric nicht bei ihm gelebt hat. Trotzdem hat er ihn einige Jahre später in ein anderes Heim gegeben. Von Geistlichen geführt, glaube ich. Er hatte die Vormundschaft zurückbekommen.« Die Frau senkte die Stimme: »Darf ich Ihnen meine Meinung sagen?«
»Natürlich.«
»Ich glaube, dass er das wegen des Geldes getan hat. Er rechnete mit Sozialhilfe. Aber der Krebs hat ihn erwischt. Er ist gestorben, und Cédric kam wieder in ein anderes Heim. Ich weiß nicht, wohin.«
»Haben Sie später von ihm gehört?«
»Etwa zehn Jahre lang war Funkstille. Aber dann hat er mich besucht. Er hatte gerade sein Abitur gemacht. Mit siebzehn Jahren! Er war schön wie ein Gott. Von da an hat er mehrmals im Jahr vorbeigeschaut oder angerufen. Er meldet sich immer wieder …«
Kasdan machte sich Notizen. Volokine musste bis zu seiner Volljährigkeit eine regelrechte Odyssee erlebt haben, von einem Heim ins andere. Wie hatte er sein Studium finanziert? Hatte ihm das Sozialamt geholfen, das Waisen eine kleine Rente auszahlt?
Der Armenier dankte der alten Dame und zog Bilanz. Wenn Volokine das Abitur vor seinem achtzehnten Lebensjahr gemacht hatte, bedeutete dies, dass er die Prüfung im Juni ’96 bestanden hatte. Anschließend musste er sich an der Sorbonne, an der Universität Assas oder Nanterre eingeschrieben haben, um Jura zu studieren. Sollte er Kontakt zu seinen Professoren aufnehmen? Nein. Kasdan wollte sich lieber seinen sportlichen Spitzenleistungen zuwenden. Vielleicht fanden sich im Internet noch Hinweise darauf.
Er musste nicht lange suchen. Aufs Geratewohl entschied er sich für die Disziplin »Kickboxen« und tippte als weitere Stichwörter »Meister« und »Frankreich« ein. Sogleich stieß er auf eine sehr ausführliche Website: »Das Boxen mit Füßen und Fäusten«. Die Website stellte das Kickboxen, das Full-Contact-Boxen, das Französische Boxen und das Muay Thai (Thai-Boxen) vor. Einer der Einträge verwies auf nach Jahrzehnten geordnete Listen der Champions in allen Disziplinen: »achtziger Jahre«, »neunziger Jahre«, »die Champions von morgen« …
In der Kategorie »neunziger Jahre« fand Kasdan ohne Probleme eine Auflistung der sportlichen Erfolge Volokines, dazu ein qualitativ schlechtes Foto:
CÉDRIC VOLOKINE
Zweimal französischer Jugendmeister im Muay Thai in 1995 und 1996. Geboren am 17. September 1978 in Paris. Größe: 1,78 m. Gewicht: 70-72 kg. Erfolgsbilanz: 34 Kämpfe, 30 Siege (23 K.o.-Siege ), zwei unentschieden, zwei Niederlagen.
Der Artikel wies darauf hin, dass der Athlet seinem Klub Muay Thai Loisirs in Levallois-Perret immer treu geblieben war. Kasdan rief an.
»Hallo?«
Eine atemlose Stimme. Kasdan war mitten ins Training hineingeplatzt. Er stellte sich vor und verlangte den Leiter.
»Das bin ich. Ich bin der Trainer des Klubs.«
»Ich rufe Sie wegen Cédric Volokine an.«
»Hat er Probleme?«
»Überhaupt nicht. Wir aktualisieren nur unsere Akten.«
»Sind Sie von der Polizei?«
Offenbar war der Mann eine harte Nuss. Kasdan sprach in dem verbindlichsten Ton, der ihm möglich war:
»Nein. Es handelt sich um eine rein administrative Anfrage. Wir brauchen den genauen Ausbildungsgang unserer besten Mitarbeiter. Um Entscheidungen über ihre zukünftige Verwendung zu treffen, verstehen Sie?«
Schweigen. Der Trainer schien nicht überzeugt zu sein – und tatsächlich war es nicht sehr überzeugend.
»Was wollen Sie wissen?«
»Laut unseren Informationen hat Cédric nach 1996 an keinen Wettkämpfen mehr teilgenommen, nachdem er zweimal französischer Jugendmeister war.«
»Das stimmt.«
»Weshalb hat er aufgehört? Hat er nie in der Seniorklasse gekämpft?«
Wieder Schweigen. Länger. Abweisender.
»Tut mir leid, das ist ein Berufsgeheimnis.«
»Jetzt kommen Sie schon. Sie sind weder Arzt noch Anwalt. Ich höre.«
»Nein, das ist ein Berufsgeheimnis.«
Kasdan räusperte sich. Es war Zeit, statt des Zuckerbrots die Peitsche herauszuholen.
»Hören Sie zu. All dies betrifft einen Fall, der vielleicht wichtiger ist als das, was ich Ihnen sagen wollte. Also entweder wir unterhalten uns jetzt am Telefon und alles ist
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