Choral des Todes
ödes Grau. In solchen Momenten schien ganz Paris aus einem Stoff gebaut zu sein: Langeweile.
Kasdan bog links ab und fuhr die Rue Saint-Jacques hinauf. Auf der Kuppe schwenkte er rechts in eine kleine Straße ein, die Rue de l’Abbé-de-l’Épée, überquerte den Boulevard Saint-Michel, raste durch die Rue Auguste-Comte und hielt direkt vor dem Montaigne-Gymnasium. Volokine verlor kein Wort über diesen phänomenalen Orientierungssinn. Wie Kasdan wusste auch er, dass jeder Polizist nach seiner Pensionierung sofort als Taxifahrer arbeiten könnte.
Wieder das gleiche Spielchen. Vorzeigen eines Ausweises, der Bluff mit der offiziellen Ermittlung. Ein Anruf des Direktors bei den Eltern oder der Kripo, und sie würden auffliegen. Doch sie durften David Simonian aus dem Unterricht holen und brachten ihn in den Speisesaal.
Als Kasdan den hoch aufgeschossenen Jungen mit dem Strubbelkopf wiedersah, fiel ihm die Ähnlichkeit mit Volo ins Auge. Sie schienen derselben Rockband anzugehören. Er ließ die beiden allein. Er wollte etwas anderes ausprobieren. Wenn Götz tatsächlich pädophil war, wenn er etwas getan hatte, was ein Kind traumatisieren konnte und Rachegefühle in ihm weckte, dann musste man den Gedanken konsequent zu Ende denken. Der Junge, der den Mord begangen hatte, konnte einem anderen Chor angehören. Vielleicht dem von Notre-Dame-du-Rosaire?
Kasdan begann wieder bei null und rief Pater Stanislas an. Er hatte sich geschworen, ihn persönlich aufzusuchen, aber er wollte Volo nicht im Stich lassen – er würde es später nachholen. Der Priester diktierte ihm bereitwillig die Liste der Mitglieder seines Chors. Kasdan dachte angestrengt nach und tat schließlich einen Polizisten auf, der sich einverstanden erklärte, für ihn die Recherche durchzuführen.
Nachdem der Armenier die Namen übermittelt hatte, ging er in der Eingangshalle des Gymnasiums auf und ab, wartete auf die Resultate der Suchanfragen und würdigte nebenbei die architektonischen Unterschiede zwischen diesem und dem ersten Gebäude. Hier war der behauene Stein tonangebend – klar, unvergänglich. Die Schule war mindestens dreihundert Jahre alt und vollständig renoviert worden. Weiße Steine, tadellose Gärten. Weitläufige Plätze, auf denen die Schritte widerhallten wie bei Trauermärschen.
Eine halbe Stunde später war er so schlau wie zuvor, und Volokine tauchte mit undurchdringlicher Miene wieder auf. Auch er hatte nichts herausgefunden.
Um 14.00 Uhr kreuzten sie im Victor-Duruy-Gymnasium am Boulevard des Invalides auf.
Benjamin Zarmanian, zwölf Jahre.
Volokine bat Kasdan, Sandwiches kaufen zu gehen, während er sich mit dem Jungen unterhalten würde. Kasdan verschwand mit dem unangenehmen Gefühl, der Assistent dieses jungen Burschen zu sein.
Als er mit den Sandwiches zurückkehrte, kam ihm Volokine bereits aus dem Klassenzimmer entgegen. Wieder Fehlanzeige. Insgeheim freute sich Kasdan über seine Misserfolge. Volokine war eben doch nicht schlauer als er.
14.45 Uhr: Brian Zarossian.
Jacques-Decourt-Gymnasium, Avenue de Trudaine, 9. Arrondissement.
Ein weiterer Fehlschlag.
15.30 Uhr: Harout Zacharian.
École Jean-Jaurès, Rue Cavé, 18. Arrondissement.
Nichts.
Kasdan unterstützte jetzt Volokine bei jeder Befragung. Er verstand kein Wort von ihrer Unterhaltung über Videospiele, Figuren in Fernsehserien oder die neuen Kommunikationsweisen. Dies schien das unverzichtbare Präludium zu einem echten Dialog zwischen einem erwachsenen Mann und einem Halbwüchsigen zu sein. Doch diese Gemeinsamkeit brachte nichts. Nicht die Spur einer Unsicherheit. Nicht ein Wort, das auf ein Geheimnis hindeutete.
16.45 Uhr: Ella Kareyan.
Condorcet-Gymnasium, Rue du Havre.
Im Herzen des Viertels um den Bahnhof Saint-Lazare wurde der Verkehr immer dichter. Im Lauf des Nachmittags erfüllte die beiden zunehmend Klaustrophobie.
Wieder nichts.
Um 18.00 Uhr war nur noch ein Junge übrig.
Timothée Avedikian, dreizehn Jahre, in Bagnolet.
Sie zögerten. Die Dunkelheit war hereingebrochen. Angesichts der Staus konnten sie damit jede Hoffnung auf einen geruhsamen Feierabend begraben.
Sie fuhren trotzdem. Wenn man bei Ermittlungen eine Liste nicht bis zum Schluss abarbeitete, brauchte man gar nicht erst anzufangen. Volokine schwieg hartnäckig. Kasdan fragte sich, ob dieser unergiebige Tag der Grund für seine schlechte Laune war oder ob sich die Entzugserscheinungen bemerkbar machten.
An der Porte de Bagnolet versuchte Kasdan, seinem Partner
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