Choral des Todes
auf den Zahn zu fühlen:
»Was denkst du?«
»Nichts. Sie sind schwer zugänglich oder unschuldig, ganz einfach.«
Sie fuhren kreuz und quer durch Bagnolet. Ein trostloser, düsterer Vorort. Timothée Avedikian hatte die Ganztagsschule bereits verlassen. Kasdan hatte seine Adresse. Sie gelangten zu dem Einfamilienhaus in der Rue Paul-Vaillant-Couturier.
Nachdem sie sich bei den Eltern vorgestellt hatten, begann Volokine den Jungen zu befragen.
Der Armenier setzte sich derweil auf eine klapprige alte Hollywoodschaukel im Garten, denn er fürchtete, die Eltern könnten genauere Auskünfte von ihm erbitten. Volokines miese Stimmung hatte auf ihn abgefärbt. Was machte er hier? Er war einen ganzen Tag lang einem Phantom hinterhergelaufen. Leichtfertigerweise hatte er der Intuition eines rauschgiftsüchtigen jungen Polizisten Vertrauen geschenkt und dadurch wertvolle Stunden verloren, bei diesen Ermittlungen auf eigene Faust, die ein Wettlauf gegen die Zeit waren.
Kasdan war umso wütender, als er noch eine andere Spur hatte – die politische Fährte. Wilhelm Götz war abgehört worden. Der Inlandsgeheimdienst Renseignements Généraux oder der Verfassungsschutz DST hatten sich für den Organisten interessiert. Da würde man bestimmt fündig werden. Er hätte bei diesen Behörden nachforschen sollen, um Auskünfte über die politische Vergangenheit des Chilenen zu erhalten. Er hätte Götz’ Telefonrechnungen durchforsten sollen, um die Nummer des Anwalts herauszufinden, an den sich der Chilene gewandt hatte. Er hätte auch die Familien anrufen sollen, bei denen Götz private Klavierstunden gegeben hatte. Das alles würde jetzt gerade Vernoux erledigen, während er, der erfahrene Polizist, einen Tag mit einem Junkie vergeudete, der ein besessener Pädophilenjäger war.
Im Grunde wusste er, warum er auf den Jungen gehört hatte. Eine alte Wunde hatte ihn geleitet. Der Weggang seines Sohnes. Nun hatte ihm der Himmel einen Partner geschickt, der genauso alt war wie David. Ein junger Mann, der seinem Sohn glich, aber noch viel mehr ihm selbst. Ein Polizist, ein Mann der Straße. Kasdan wusste: Der wahre Grund des Zerwürfnisses mit David war sein Beruf als Polizist.
Sein Sohn hasste Polizisten nicht. Er verachtete sie. Eines Tages hatte er ihm halb abfällig, halb ironisch gesagt: »Ein Polizist ist ein Ganove, der es nicht geschafft hat.« Und das glaubte er auch. Dieser junge Mann, der jener Generation angehörte, die sich an Start-ups, neuen Technologien und leichtem Geld berauscht hatte, begriff nicht, wie sich sein Vater vierzig Jahre lang für ein kümmerliches Gehalt auf den Straßen hatte herumtreiben können.
Ja, er hatte gute Gründe dafür gehabt, sich mit Volokine zusammenzutun. Einfach um Zeit mit einem jungen Mann zu verbringen, der ihm sympathisch war, der ihn an seine schönen Jahre erinnerte und sein Versagen gegenüber seinem Sohn vergessen ließ. Er war verblendet gewesen. Er war … Nein, das stimmte auch nicht. Es war nicht nur Faszination gewesen. Er hatte den Russen aus der Klinik geholt, damit er die Sängerknaben, die kaum jünger waren als er, ein weiteres Mal befragte. Denn instinktiv spürte er, dass der Drogensüchtige in einem Punkt richtiglag: Der Knabe, der seinen Fußabdruck auf der Empore der Kathedrale hinterlassen hatte, war nicht bloß ein Zeuge. Davon war Kasdan jetzt überzeugt.
Schritte hinter seinem Rücken.
Volokine in seinem billigen Anzug und seinem Parka kam ihm mit gesenktem Kopf entgegen und rückte seine Krawatte zurecht.
»Und?«
»Nichts.«
»Du musst vielleicht deine Theorie korrigieren, oder?«
»Nein, ich kann mich nicht geirrt haben, nicht so sehr.«
»Die Sturheit ist der schlimmste Feind des Polizisten …«
Der Russe blickte auf und starrte Kasdan an. Seine Pupillen glichen zwei Leuchtkäfern in der Dunkelheit. Er zog sich eine Craven heraus und zündete sie an. Seine Kiefermuskeln spannten sich an und lockerten sich, als er an der Zigarette zog.
»Ich habe immer auf meinen Instinkt gehört«, sagte er, während er den ersten Zug ausstieß, »und ich habe immer richtiggelegen.«
»Du bist dreißig. Es ist noch ein bisschen zu früh, um allgemeine Grundsätze aufzustellen.«
Volokine wandte sich ab und stapfte in einer weißen Rauchfahne davon:
»Kommen Sie, ich hab eine andere Idee.«
Kasdan kam nur mit Mühe von der verrosteten Hollywoodschaukel hoch. Er holte Volokine auf der Straße ein. Neben ihm hatte er den Eindruck, die Nummer sechs des
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