Choral des Todes
Mist. Götz ist der heilige Wilhelm.«
»Das ist doch möglich, oder? Vielleicht hat Götz seine Zeit wirklich mit Chorproben und Erinnerungen an seine Heimat verbracht. Auch wenn er mit seinem Geliebten bizarre Sachen angestellt hat.«
»Kasdan, Sie sind älter als ich. Sie kennen die menschliche Natur. Wilhelm Götz war homosexuell. Naseer war nicht sein erster Typ. Und auch nicht der einzige. Die Schwulen sind heiß wie Frittenbuden. Aber es gibt keinerlei Spuren irgendwelcher Kontakte. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Er hat einen zweiten Rechner benutzt, an einem anderen Ort.«
Volokine nahm seine CD aus der Maschine und stieß einen langen Seufzer aus.
»Oder Götz bevorzugte die Methode der Terroristen: den direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Keine Technologie, keine Spuren. In diesem Fall hat er seine Geheimnisse mit ins Grab genommen.«
Der junge Polizist spielte weiterhin auf den Tasten. Kasdan vermutete, dass er die Spuren seiner Durchsuchung tilgte.
Schließlich schaltete Volokine den Computer aus.
»Woher hast du diese Wut auf die Pädophilen?«, fragte Kasdan.
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte der Russe lächelnd. »Wenn ich so hartnäckig hinter diesen Mistkerlen her bin, dann muss ich mit ihnen noch eine Rechnung zu begleichen haben. Der kleine Waisenjunge, der in seiner Kindheit missbraucht wurde …«
»Ist es nicht so gewesen?«
»Nein, ich muss Sie leider enttäuschen. Bei den Patres war nicht jeder Tag eitel Sonnenschein, aber solche Probleme habe ich nie gehabt.«
Volokine machte seine Umhängetasche zu und stand auf.
»Ich werde Ihnen die Verletzungen nennen, die mich erschüttert haben. Sie heißen: Vergewaltigung, Analfissuren, Folterungen, Infektionen, Morde und Selbstmorde. Sie türmen sich im Archiv des Jugendschutzdezernats. Meine Verletzungen, das sind all die kleinen Kinder überall auf der Welt, die ich nicht kenne, und die man zu den abscheulichsten Sachen zwingt. Sachen, die sie nicht verstehen. Sachen, die ihre Welt zerstören und sie seelisch kaputt machen, sofern sie überleben. Um die Typen zu jagen, die ihnen das angetan haben, muss ich das nicht selbst durchgemacht haben. Es genügt, dass ich an diese Kinder denke.«
Kasdan schwieg. Er konnte das nachvollziehen, aber aus Erfahrung wusste er auch, dass jemand, der etwas mit Leib und Seele tut, einen inneren Grund dafür hat.
Er öffnete das Rollo und deutete auf die Eingangstür:
»Wir wär’s, wenn wir Naseer, dem Gespielen von Götz, einen Besuch abstatten würden? Ein schönes Verhör nach altem Muster: Man sitzt sich gegenüber, plaudert miteinander und teilt, wenn’s nötig ist, ein paar Ohrfeigen aus.«
KAPITEL 20
Naseerudin Sarakramahata wohnte im Boulevard Malesherbes Nummer 137, nicht weit vom Park Monceau entfernt. Ein Gebäude aus der Zeit Haussmanns, imposant, die Fassade mit Wappenschilden und Karyatiden geschmückt. Kasdan erinnerte sich, dass der Mauritier gesagt hatte, er wohne im obersten Stockwerk des Gebäudes, dort, wo sich die Dienstbotenkammern befinden.
Universalschlüssel. Dann eine weitere Tür, durch eine Gegensprechanlage gesichert. Kein Hausmeister. Sie wollten nicht einfach bei irgendjemandem läuten, um keine Spuren zu hinterlassen. Stumm lehnten sich die beiden Männer an die gegenüberliegenden Wände der Eingangshalle. Sie entspannten sich im Halbdunkel des Raumes. Sie mussten nur noch darauf warten, dass ein Bewohner heimkam oder das Haus verließ.
Nach einigen Sekunden lächelte Kasdan:
»Das erinnert mich an meine Jugend, meine ersten Jahre beim Dezernat zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens.«
»In meiner Jugend habe ich nicht darauf gewartet, dass man mir die Tür öffnete. Ich bin durchs Fenster eingestiegen.«
»Du meinst in der Zeit, als du gedealt hast?«
»Ich hab mit meinem Schicksal gedealt, Kasdan. Das ist nicht das Gleiche.«
Der Armenier nickte, als würde er ihm zustimmen. Man hörte das Geräusch des Aufzugs, der klappernd zum Stehen kam. Eine Frau in Pelzmantel und mit einer edlen Klemmtasche öffnete die Glastür. Sie warf den beiden ungehobelten Burschen, die sie höflich grüßten, einen argwöhnischen Blick zu.
Sie fuhren direkt in den Stock mit den Dienstbotenzimmern. Der lange Flur erinnerte Kasdan an seine eigene Wohnung. Aber vor allem passte dieser gräuliche Schlauch zu der kleinen Tasche der jämmerlichen Tunte, die er voller Widerwillen durchsucht hatte. Alles hier passte zu diesem jämmerlichen Leben.
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