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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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nicht gleich. Doch aus einem Instinkt heraus besann er sich anders und teilte den beiden Priestern einige Einzelheiten mit. Er sprach von den durchstochenen Trommelfellen, den Unterschieden zwischen dem ersten und dem zweiten Mord, vom »tunesischen Lächeln«, von der abgeschnittenen Zunge und auch von dem Zitat aus dem Miserere am Tatort.
    Daraufhin lächelten ihn die beiden Brüder in der gleichen Weise an.
    »Wir haben eine Theorie über die Serienmörder«, begann Grauhaar. »Wollen Sie sie hören?«
    »Nur zu!«
    »Kennen Sie die Diabelli-Variationen ?«
    »Nein.«
    »Eines der schönsten Werke Beethovens. Sein Meisterwerk. Einige meinen sogar, es sei das Meisterwerk der Klaviermusik überhaupt. Das ist ein wenig übertrieben, aber jedenfalls können sie als die Quintessenz der Notenschrift für Klaviermusik gelten. Zu Beginn wird ein beinahe belangloses Thema eingeführt, das entfaltet, ausgebreitet und endlos variiert wird …«
    »Und was hat das mit den Morden zu tun?«
    Santo nickte vielsagend mit dem Kopf:
    »Wir haben einen bedeutenden Pianisten gekannt, der sich weigerte, die Variationen im Studio aufnehmen zu lassen. Er wollte sie nur im Konzert spielen, ohne die geringste Unterbrechung. Dadurch wird das Werk zu einer regelrechten Reise. Einem emotionalen Prozess. Jede Variation bereichert die anderen. Jedes Fragment enthält die Anstrengung des vorangehenden, die Verheißung des folgenden. Es entsteht ein Netz, ein Spiel von Echos, von Verweisen, dem eine geheime Ordnung zugrunde liegt …«
    »Ich sehe noch immer keinen Zusammenhang.«
    Grauhaar schmunzelte:
    »Man kann eine Mordserie als Variationen über ein Thema betrachten. Der Mörder schreibt gewissermaßen eine Partitur. Oder vielmehr schreibt die Partitur ihn. Jedenfalls ist der Fortgang unabwendbar. Jeder Mord ist eine Variation des vorhergehenden. Jeder Mord kündigt den folgenden an. Hinter den Variationen muss man das ursprüngliche Thema, die Quelle, finden …«
    Kasdan stützte die Ellbogen auf den Tisch und fragte spöttisch:
    »Und wie muss ich Ihres Erachtens vorgehen, um dieses Thema zu entdecken?«
    »Auf die Gemeinsamkeiten achten, aber auch auf die Nuancen, die Unterschiede zwischen den einzelnen Verbrechen. Allmählich zeichnet sich dann das Thema ab.«
    Der Armenier stand auf und meinte sarkastisch:
    »Verzeihen Sie, aber Sie überschreiten Ihre Befugnisse.«
    »Haben Sie Bernanos gelesen?«
    »Vor langer Zeit.«
    »Denken Sie an den letzten Satz im Tagebuch eines Landpfarrers : ›Was macht das schon? Alles ist Gnade …‹ – Alles ist Gnade, Kommissar. Selbst bei Ihrem Mörder. Den Taten liegt immer eine Partitur zugrunde. Überall wirkt der Wille Gottes. Sie müssen das Thema finden, das Leitmotiv. Dann finden Sie auch den Mörder.«

KAPITEL 27
    Diese bescheuerten weihnachtlichen Lichterketten.
    Sie hingen über jeder größeren Straße und stachen ihn wie Nadeln in die Augen.
    Volokine hing im Taxi seinen Gedanken nach. Die Lampions, die Sterne, die glitzernden Kugeln – all dies ging ihm auf die Nerven, wie alles, was mit Festen im Allgemeinen in Zusammenhang stand und mit Kinderfesten im Besonderen. Gleichzeitig gab es einen Teil in ihm, der Weihnachten nach wie vor mochte. Etwas in ihm war da noch nicht völlig abgestumpft.
    Der Wagen umrundete die Opéra Garnier und musste an der Kreuzung zum Boulevard Haussmann stehen bleiben. Die Galeries Lafayette am 23. Dezember, einem Samstag. Was das Verkehrsaufkommen betraf, konnte es kaum schlimmer werden.
    Volokine betrachtete die Schaufenster. Ein riesiger, debil wirkender Bär lag ausgestreckt da, überhäuft von zahllosen kleinen Bären. Weitere Teddybären waren in durchsichtige Weihnachtskugeln eingeschlossen und glichen aufgehängten Föten. Dürre weibliche Schaufensterpuppen, die an anorektische Gespenster erinnerten, nahmen bizarre Posen ein; zu ihren Füßen Albino-Hasen, die offenbar ausgestopft waren. Völlig abgedreht.
    Aber das Schlimmste war die dumpfe Masse. Diese vertrottelten Eltern, die ihre Nachkommen an der Hand hielten, als wären es ihre eigenen verlorenen Träume, und die angesichts dieser märchenhaften Szenen in Entzücken ausbrachen. Schaufenster, die sie nur daran erinnerten, dass die Zeit verstrich, ihre Kindheit zu Ende war und der Friedhof näher rückte. »Kinder wachsen auf Gräbern«, sagte Hegel.
    Ungeachtet seines Zorns und seiner Verachtung empfand Volokine auch noch das andere Gefühl. Seine Sehnsucht nach der Kindheit. Erinnerungen

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