Choral des Todes
anderen gecheckt und bin auf einen Namen gestoßen. Sylvain François, zwölf Jahre. Ein Kind, das vom Jugend- und Sozialamt betreut wird. Er wurde aus Mildtätigkeit und wegen seiner hervorragenden Stimme in den Chor von Notre-Dame-de-Lorette aufgenommen. Sie haben das große Los gezogen. Der Junge scheint ein echtes Früchtchen zu sein: Diebstahl, Handgreiflichkeiten, Ausreißen. Heute Morgen proben sie in voller Besetzung für die Christmette. Ich werde mir den kleinen Sylvain schnappen und ihm auf den Zahn fühlen. Man weiß nie: Vielleicht ist er ja unser Mörder.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ich glaube, wenn er etwas zu sagen hat, wird er es mir sagen. Ich weiß, wie ich mich solchen Rotzlümmeln umgehen muss. Wir halten über Handy Kontakt.«
KAPITEL 26
Die Kirche Saint-Thomas-d’Aquin war riesig und prunkvoll ausgestaltet. Ein typisches Bauwerk des Zweiten Kaiserreichs. Unter ihren hellen Gewölben hingen dunkle und goldbraune Gemälde wie in einem Museum. Die Erhabenheit und die imperiale Größe prägten hier die liturgische Atmosphäre.
Kasdan ging durch das Mittelschiff nach vorn. Geringschätzig betrachtete er diese allzu überladene, allzu erlesene Ausstattung. Ein Armenier war karge, schmucklose Kirchen gewohnt, in denen die bildliche Darstellung Gottes verboten ist. Bei den Katholiken fühlte er sich nur in den kargen, schroffen romanischen Kirchen wohl. Sie waren für ihn ein Ausdruck echter Gläubigkeit ohne Blabla und Schnörkel.
»Sind Sie der Polizist, der vorhin angerufen hat?«
Kasdan drehte sich um. Zwei Männer in schwarzer Soutane standen in der Nähe des Altars. Der eine war klein und hatte einen grauen Wuschelkopf. Der andere war kräftig und kahlköpfig. Wenn man sie sah, hatte man das Gefühl, ein oder zwei Jahrhunderte zurückversetzt worden zu sein. Die beiden schienen Alphonse Daudets Novellensammlung Briefe aus meiner Mühle entsprungen.
»Ja, das bin ich. Lionel Kasdan. Sind Sie Vater Paolini?«
Er hatte den kleineren der beiden angesprochen, doch beide Männer antworteten gleichzeitig mit »Ja«. Kasdans Verwunderung nötigte ihnen ein Schmunzeln ab:
»Wir sind Brüder.«
»Wie bitte?«
Sie grinsten. Dann sagte der Kleine:
»In der säkularen Welt sind wir Brüder.«
Der zweite ergänzte:
»In der Welt Gottes sind wir Väter.«
Beide lachten schallend, zufrieden über ihren Witz, den sie wohl jedem Besucher auftischten. Kasdan streckte die Hand aus. Beide Priester hatten einen kräftigen Händedruck. Der Armenier musterte sie.
Der Kleine lachte übers ganze Gesicht und entblößte dabei ein strahlendes Gebiss. Der Große lächelte mit geschlossenen Lippen und zog eine heitere Miene. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Größe und Frisur ähnelten sich die beiden Brüder. Der gleiche olive Teint. Die gleiche Nase in Form eines Tukanschnabels. Der gleiche korsische Akzent. Dagegen bewegten sie sich unterschiedlich schnell. Der Kleinere hatte die Trägheit eines Leichenzugs. Das Größere war agil wie ein Tänzer. Sein kahler Kopf erinnerte an eine Strumpfmaske. Kasdan dachte an den berühmten maskierten Catcher Santo.
»Kommen Sie mit«, sagte Grauhaar.
»In unserem Gemeindesaal ist es bequemer«, fügte Santo hinzu.
Sie verließen die Kirche und überquerten den menschenleeren Platz, der sich am Boulevard Saint-Germain entlangzieht. Der kleine Paolini schloss eine Tür auf, über der eine Glasmalerei in Form eines Kreuzes in die Mauer eingelassen war. Sie tauchten in die Finsternis ein. Der Gemeindesaal wirkte nüchtern. Im Viereck angeordnete Schultische. Plakate, die dazu ermahnten, »dem Weg Jesu« zu folgen. Zwei Fenster, die auf einen grauen Hof gingen. Der kahlköpfige Priester schaltete die Deckenlampe an und bedeutete Kasdan, an einem der Ecktische des Quadrats Platz zu nehmen. Die beiden Priester setzten sich an den anstoßenden Ecktisch.
Kasdan berichtete von dem Mord an Wilhelm Götz. Er fasste den Sachverhalt zusammen: Tatort, Uhrzeit, Umgebung. Und der Chor. Er tat so, als führe die Polizei vor allem Ermittlungen im Umfeld des Opfers durch. Da es kein erkennbares Motiv und keinen Tatverdächtigen gebe, konzentriere sich die Polizei auf das Opfer und sein Persönlichkeitsprofil.
»Haben Sie sich gut mit Wilhelm Götz verstanden?«
»Mehr als gut«, antwortete Grauhaar. »Auch ich bin Pianist. Wir haben zusammen gespielt.«
»Ich ebenso«, fügte Santo hinzu, »Werke für zwei Klaviere.«
»Ja, Franck, Debussy, Rachmaninow …«
Kasdan wurde
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