Choral des Todes
tauchten auf, wie eine Reihe von Standbildern. Übelkeit stieg in ihm auf, wie jedes Mal, wenn er sich erinnerte. Sogleich dachte er daran, sich einen Schuss zu setzen. Ganz in der Nähe, auf der Anhöhe von Pigalle und in der Rue Blanche, kannte er mindestens drei Dealer. Ein Anruf, ein Umweg, ohne dass jemand etwas mitbekam, und der Schraubstock der Angst würde sich öffnen.
Er ballte die Fäuste. Das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte. Kein Gramm, bevor der Fall gelöst war. Kein Schuss, bevor er dem oder den Mördern in die Augen gesehen hätte.
Er schluchzte. Heiße Tränen rannen über seine miese Fixervisage. Rotz floss ihm aus der Nase, benässte seine Lippen mit einem salzigen Meergeschmack. Er dachte an seine wackligen Zähne, an seinen drogenverseuchten Körper im Entzug – und seine Tränen flossen noch stärker.
»Geht’s Ihnen nicht gut, M’sieur?«
Der Taxifahrer musterte ihn im Rückspiegel.
»Geht schon. Ist wegen Weihnachten. Ich find’s unerträglich.«
»Ach so, mir geht’s genauso. Mit all den Idioten, die …«
Der Fahrer schimpfte über die Feiertage. Volo hörte nicht hin. Das Schluchzen erleichterte ihn. Es wirkte wie ein Abführmittel und dämpfte die Gier nach Heroin. Der Stau löste sich auf. Voller Erleichterung sah er, dass sie sich der Rue Lafayette näherten. Der Fahrer fädelte sich in die reservierte Fahrbahn ein, bog in die Rue Lafitte und fuhr diese geradeaus durch bis zur Kirche Notre-Dame-de-Lorette. Schließlich hielt er in der Rue de Châteaudun, unweit der Rue Fléchier.
Volo zahlte und kletterte aus dem Taxi, wobei er sich die Augen trocknete. Er stieg die Stufen hinauf und drückte gegen die Drehtür. Jede Kirche hatte ihre kleine Besonderheit, ihren verborgenen Schatz. Das Glanzstück dieser Kirche war offenbar die Kassettendecke. Sobald man nach oben blickte, entdeckte man im Halbdunkel eine Reihe fein gearbeiteter Holzreliefs, die im Schatten wie Bienenkörbe leuchteten.
Er machte einige Schritte, während er in die Luft starrte, als ihn ein neuer Schock traf. Chorgesang hallte in der Kirche wider. Der Russe hatte den Schlag erwartet, aber er fiel noch heftiger aus, als er es vermutet hatte. Er sank auf einen Stuhl. Mist. So viele Jahre waren vergangen, aber seine Stimmenphobie war immer noch da, genauso heftig wie eh und je …
Sein ganzer Körper verabscheute den Gesang. Er konnte keine Knabenchöre mehr hören. Er ertrug sie nicht mehr, ohne zu wissen, wieso. Er presste die Hände auf seine Ohren, als sich ganz in seiner Nähe eine Stimme erhob:
»Was haben Sie, mein Sohn? Ich bin Pater Michel.«
Ein Priester stand mit halb geschlossenen Augen vor ihm, wie eine Katze, die gleich eindöst. Der Polizist verspürte das Bedürfnis, ihm die Fassade zu polieren, doch in diesem Moment trat in der Kirche Stille ein. Die Stimmen waren verstummt. Er beruhigte sich.
»Wir bereiten uns auf die Christmette vor«, fuhr der Priester in leisem, salbungsvollem Ton fort. »Wir …«
Der Geistliche hielt inne. Volokine hatte sich erhoben und hielt ihm seinen blau-weiß-roten Ausweis vor die Nase. Die Verblüffung des Priesters war wie Balsam für seine Seele. Er freute sich darüber, dass er nicht einer dieser Pennbrüder war und dass er auf sein Mitgefühl pfiff. Er war Polizist, verdammt. Ein Typ, der diesem Mann den Tag versauen konnte …
Barsch erklärte er, dass er im Mordfall Wilhelm Götz ermittelte und Sylvain François vernehmen wolle.
»Verdächtigen Sie etwa Sylvain?«
»Ich muss ihn befragen, das ist alles.«
Der Priester erblasste. Volokine ließ sich zu einer Erläuterung herab:
»Das sind die Vorschriften. Wir müssen die Personen im Umfeld von Wilhelm Götz befragen, die vorbestraft sind.«
»Sylvain ist nicht vorbestraft.«
»Weil er minderjährig ist.« Volo fand seine Selbstsicherheit wieder. »Hören Sie zu, ehrwürdiger Vater. Ich arbeite nicht bei der Mordkommission, sondern beim Jugendschutzdezernat. Sie haben mich hergeschickt, weil ich Erfahrung darin habe, junge Burschen zu vernehmen, vor allem die renitenten. Geben Sie mir also ein paar Minuten mit Sylvain, und alles ist in Butter.«
»Ich … schön. Sehr gut. Aber vorgestern war schon ein anderer Polizist hier …«
»Ich weiß. Lionel Kasdan, wir arbeiten zusammen.«
Beruhigt wies der Mann mit ausgestrecktem Arm auf den hinteren Teil der Kirche. Im Dämmerlicht gewahrte der Russe eine Schlange von Jungen, die die Treppe von der Empore hinunterstiegen. Auf Anhieb
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