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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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geändert. Demokratische Organisationen haben mit Hilfe der katholischen Kirche Informationen über gefolterte, verschwundene oder hingerichtete Menschen gesammelt und Akten angelegt. Die Anwälte der Organisation ›Vikariat der Solidarität‹ zum Beispiel haben gute Arbeit geleistet. Die ersten Strafanzeigen wurden schon Anfang der achtziger Jahre erstattet. Wegen Entführung, Folter, Totschlags. Was das Militär als Verhaftung, Vernehmung, Eliminierung bezeichnete. In den härtesten Zeiten stieg die Zahl der Vermissten schätzungsweise auf dreitausend. Und das waren nicht nur Chilenen. Die ›Ausländer‹ wurden sogar vorrangig verschleppt: Spanier, Franzosen, Deutsche, Skandinavier. Es waren viele. Die Regierung Salvador Allende, die Pinochet dann mit seinem Putsch beseitigte, verkörperte eine Art Internationale des Sozialismus. Eine verwirklichte Utopie, die Aktivisten aus aller Welt anzog. Die Belle Époque für alle, die sich zu jenen Ideen bekannten.«
    Das schien jedoch nicht für Simon Velasco zu gelten. Ein großer, bärtiger, grau melierter Mann mit einer ausladenden Gestik und einem einnehmenden Lächeln. Er sprach akzentfrei Französisch, abgesehen von einem leicht snobistischen Tonfall, den er sich zweifellos auf seinen diplomatischen Abendgesellschaften zugelegt hatte. Ein Großbürger aus Santiago, der bestimmt noch nie ein Gefängnis oder einen Linksradikalen aus der Nähe gesehen hatte.
    Der Mann bot ihnen eine eisgekühlte Limonade an, was zu dieser Jahreszeit ziemlich merkwürdig war. Aber Velasco schien noch immer im Rhythmus des sehr langen Spätsommers von Santiago de Chile zu leben. Er hatte sie in seinem Büro empfangen – lackiertes Holz, mahagonifarbiges Leder, Zigarrenduft. Im Halbdunkel hatte Kasdan die goldbraunen Einbände der Bibliothèque de La Pléiade ausgemacht, sich die Brille auf die Nase gesetzt und die Namen der Autoren gelesen: Montaigne, Balzac, Maupassant, Montherlant. Ein ausgesprochener Frankophiler.
    Nachdem er die Gläser gefüllt hatte, stellte Velasco die Kristallkaraffe ab und nahm ihnen gegenüber Platz.
    »In den achtziger Jahren schützte eine verkappte Amnestie die Folterer. Zum einen gab es das Problem der Vermissten. Ohne Leichen keine Opfer. Zum anderen kam das Wort ›Folter‹ nicht einmal im chilenischen Strafgesetzbuch vor. Auf den ersten Blick schienen die Militärs nichts zu befürchten zu haben. Aber nur auf den ersten Blick, denn es gab andere Länder, in denen Strafanzeige erstattet wurde. Die Auslieferungsanträge mehrten sich. In Chile selbst sprach man zunehmend von diesen Strafprozessen. Die Zeitungen schrieben darüber. Demonstranten wagten sich auf die Straße. Pinochet wurde älter. Und die Welt veränderte sich: Die Diktaturen brachen nacheinander zusammen. In Südafrika geriet die Apartheid ins Wanken. In den Ländern des Ostblocks kriselte es. Und die Vereinigten Staaten unterstützten die südamerikanischen Diktaturen nicht mehr so offen. Die Frage spitzte sich also zu: Würde Chile die Mörder ausliefern?«
    Kasdan fragte:
    »Genau das ist doch Pinochet widerfahren, nicht wahr?«
    »Nicht ganz. Pinochet hatte Gesundheitsprobleme. Er hatte eine Lumbalhernie und fuhr nach London, um sich operieren zu lassen. Das war unvorsichtig. Tatsächlich lag in England keine Strafanzeige gegen ihn vor, aber dem Madrider Richter Baltasar Garzón war es gelungen, einen spanischen Strafbefehl in Großbritannien geltend zu machen. Es gibt Rechtshilfeabkommen zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich. Pinochet saß in der Falle. Er genoss keine Immunität mehr. Abgesehen von seinem Alter und seiner angeblichen Senilität. Damit hat er sich dann aus der Schlinge gezogen.«
    Volokine kam wieder auf den Punkt:
    »Zurück zu Wilhelm Götz. Wissen Sie, welche Rolle er bei der Verfolgung von Regimegegnern gespielt hat?«
    »Weder eine wichtige noch eine offizielle Rolle. Wilhelm Götz war kein Militär. Er gehörte auch nicht der Junta an. Aber er stand den Folterern nahe, und zwar den Führern der DINA , der Geheimpolizei Pinochets.«
    »Was tat er?«
    Velasco strich sich mit der Hand über den Bart.
    »Man weiß nichts Genaues. Nur wenige haben diese Verhöre überlebt. Dennoch taucht sein Name in mehreren Strafanzeigen auf. Offensichtlich war er bei Folterungen anwesend.«
    »Etwas verstehe ich nicht«, schaltete sich Kasdan ein. »Warum hat Götz ausgerechnet in Frankreich Zuflucht gesucht, obwohl diese Strafanzeigen aus Europa stammen? Warum hat er

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