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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Ruhe über das Blut, das an seinen Händen klebte.«
    Kasdan stellte sich die Szene vor: Der despotische General, von dem der berühmte Satz stammte: »In diesem Land bewegt sich kein Blatt, ohne dass ich darüber Bescheid weiß«, der nun mit dem Rücken zur Wand stand und diesem eleganten Aristokraten Rechenschaft ablegen musste.
    »Wissen Sie«, fuhr Velasco fort, »Pinochet war nicht so, wie man dachte. Er hatte sich die Persönlichkeit eines allwissenden, erbarmungslosen Diktators übergestülpt, aber im Grunde war er ein kleiner Mann. Ein Opportunist ohne Format. Ein Ehemann unter der Fuchtel einer ehrgeizigen Gattin, die aus höheren gesellschaftlichen Kreisen stammte als er.«
    Velasco trank einen Schluck Limonade. Selbst im Rückblick schien er von diesen beinahe surrealen Ereignissen verblüfft zu sein.
    »Das Verrückteste war«, fuhr er fort, »dass ›Pinocchio‹, so sein Spitzname, gegen den Staatsstreich war. Er hatte Angst! Durch Zufall übernahm er die Führung des Landes. Die Amerikaner haben einfach den ältesten General des Heeres auf den Thron gehoben. Augusto Pinochet. Das hat er voll und ganz genossen. Wie ein grausames Kind, dem man ein Land geschenkt hat. Die Amerikaner konnten sich freuen: Er hat sich auf die Sozialisten eingeschossen, als gehe es darum, eine ansteckende Krankheit auszurotten. Damals pflegten die Generäle zu sagen: ›Man muss die Hündin töten, bevor sie Junge bekommt.‹«
    Diese Äußerungen riefen Kasdan Naseers Bemerkung über die Operation Condor in Erinnerung, die darauf abzielte, das »kommunistische Krebsgeschwür« auszumerzen, wo immer es auftrete. Er erwähnte diesen Plan. Velasco antwortete:
    »Es kann sein, dass Götz Informationen besaß. Womöglich hat er sogar an einzelnen Operationen teilgenommen. Wie will man das wissen? Er hat seine Geheimnisse mit ins Grab genommen. Es sei denn, er hätte bereits ausgesagt. Es liegt nun an Ihnen, seinen Anwalt ausfindig zu machen.«
    Volokine gab ihm sein Notizbuch zurück und klappte seine Kladde zu. Der Diplomat stand auf, öffnete die Tür seines Büros und sagte abschließend:
    »Sie müssen verstehen, ich war nicht auf der Seite der Sozialisten. Überhaupt nicht. Ich gehörte der chilenischen Oberschicht an, und ich gestehe, dass ich zur Zeit Allendes Angst hatte wie alle Wohlhabenden. Wir hatten Angst, unser Vermögen zu verlieren. Angst, den Russen in die Hände zu fallen. Angst, dass unser Land zusammenbrechen würde. In wirtschaftlicher Hinsicht stand Chile damals am Rande des Abgrunds. Darum haben wir aufgeatmet, als die Armee geputscht hat. Und wir haben den Blick abgewandt, als das Militär Tausende von Menschen im Stadion von Santiago ermordet hat. Als Todeskommandos durchs Land gezogen sind. Als Studenten, Arbeiter, Ausländer in den Straßen erschossen wurden. Dann sind wir zu unseren alten bürgerlichen Gewohnheiten zurückgekehrt, während viele Menschen unseres Landes in den Gefängnissen krepierten.«
    Die beiden Partner folgten dem Chilenen in die Diele. Ein hispanoamerikanisches Haus voller kleiner Zimmer mit schmalen Fenstern, versehen mit schmiedeeisernen Gittern im kastilischen Stil.
    Auf der Schwelle fragte Kasdan:
    »Warum haben Sie dann gegen Pinochet ermittelt?«
    »Es war Zufall. Ich bekam die Akte auf den Schreibtisch. Sie hätte genauso gut auch im Nachbarbüro landen können. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Kennen Sie Santiago? Eine triste Stadt, grau wie Blei und Zinn. Dass ich diese Akte bekam, erschien mir als ein Zeichen Gottes. Man bot mir eine Chance. Die Chance, für meine Gleichgültigkeit und meine Komplizenschaft Buße zu tun. Leider ist Pinochet gestorben, ohne bestraft worden zu sein. Und ich spiele in Ihrem Land den Aristokraten und trinke meine Limonade …«
    »Auf jeden Fall hat Götz für seinen Fehler gebüßt. Der Tod war seine Strafe.«
    »Sie glauben, dass seine Ermordung mit diesen alten Geschichten zusammenhängt?«
    Kasdan antwortete ihm wie ein echter Kripobeamter:
    »Im Augenblick schließen wir keine Möglichkeit aus.«
    Velasco nickte. Sein Lächeln schien zu sagen: »Sie sitzen in der Scheiße, ich kenne dieses Gefühl.« Er öffnete die Tür, und der Regen ergoss sich über die Türschwelle:
    »Viel Glück. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich die Liste der nach Frankreich ›eingeführten‹ Folterer gelesen habe.«
    Kasdan und Volokine rannten zum Kombi. Velascos Haus befand sich in einem vornehmen Wohnviertel von Rueil-Malmaison. Die Straße

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