Choral des Todes
sich leichtsinnig in Gefahr gebracht?«
»Eine interessante Frage. Das ist in der Tat rätselhaft. Götz schien in Frankreich nichts zu befürchten. Als würde er hier Immunität genießen. Es hat allerlei Gerüchte in dieser Hinsicht gegeben.«
»Gerüchte?«
Der Chilene faltete die Hände, als wollte er sagen: »Das ist ein Danaidenfass.«
»Politisch gesehen waren die siebziger Jahre eine komplizierte Zeit. Die Länder hatten bisweilen kaum durchschaubare Abkommen miteinander geschlossen. Und es gab Geheimnisse. Angeblich genossen einige Chilenen französische Protektion.«
»Wieso?«
»Man weiß es nicht. Aber Götz ist nicht der Einzige, der nach Frankreich geflüchtet ist. Auch Mitglieder der DINA sind hier aufgenommen worden. Sie alle erhielten den Status politischer Flüchtlinge. Eine ganze Menge.«
»Haben Sie eine Liste dieser ›Flüchtlinge‹?«
»Nein. Man müsste Nachforschungen anstellen. Ich kann mich darum kümmern, wenn Sie wollen.«
Kasdan überlegte. Dieser neue Sachverhalt konnte eine Erklärung für die Mikrofone in Götz’ Wohnung sein. Seine Zeugenaussage konnte die französische Regierung in Schwierigkeiten bringen, und der Verfassungsschutz wollte keine unangenehmen Überraschungen erleben.
Er beschloss, mit offenen Karten zu spielen:
»Wir vermuten, dass Wilhelm Götz in einem Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Chile aussagen wollte. Haben Sie etwas darüber gehört?«
»Nein.«
»Halten Sie es für möglich?«
»Sicher! Reue ist nicht vom Alter abhängig. Oder Götz hatte einen ganz pragmatischen Grund, um auszupacken. Vielleicht ist in irgendeiner Akte sein Name aufgetaucht. Vielleicht wollte er seine Freiheit in klingende Münze umsetzen. Auf diesem Gebiet überstürzen sich die Dinge oftmals.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Pinochets Tod hat alle elektrisiert. Das hat die laufenden Verfahren beschleunigt. Der Tod des Generals hat bewiesen, dass die meisten Repräsentanten der Diktatur eines natürlichen Todes sterben würden, ohne strafrechtlich belangt worden zu sein. Derzeit zeigen Staatsanwälte und Richter eine hektische Betriebsamkeit. Nun werden die Prozesse geführt, und die Köpfe werden rollen.«
»Meinen Sie in Europa oder in Chile?«
»Da und dort.«
»Kennen Sie in Frankreich Anwälte, die auf dieses Gebiet spezialisiert sind?«
»Nein. Ich habe mit diesen Prozessen nichts zu tun. Das ist nicht meine Sache. Dafür kann ich Ihnen aber den Namen einer Person nennen, die Ihnen nützlich sein wird. Es ist ein politischer Flüchtling.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Einer von den echten. Ein sobreviviente , ein Überlebender, der brutalen Verhören unterzogen wurde, bevor er nach Frankreich kam. Dieser Mann hat einen Verein gegründet, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Folterer ausfindig zu machen, wo immer sie auch stecken mögen.«
Volokine zückte sein Notizbuch:
»Wie heißt er?«
»Peter Hansen. Ein Schwede. Darum ist er noch am Leben. Die Regierung seines Landes hat ihn aus den chilenischen Kerkern herausgeholt.«
Velasco stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und öffnete eine Schublade. Er setzte seine Brille auf, blätterte in einem Notizbuch mit Ledereinband und reichte es Volokine, der die Anschrift und Telefonnummer des Skandinaviers abschrieb.
»Eine letzte Frage«, warf Kasdan ein. »Aus persönlicher Neugier. Wie kommt es, dass Sie all das wissen? Sie scheinen doch mit diesen Akten vertraut zu sein.«
Wiederum lächelte Velasco:
»Ich bin erst seit fünf Jahren Botschaftsattaché. Ein Ehrenamt, das ich im Ruhestand bekleide. Vorher war ich Untersuchungsrichter.«
»Sie wollen damit sagen, dass …«
»Ja, ich bin einer der Richter, die Augusto Pinochet verfolgt haben. In seinem Heimatland. Glauben Sie mir, es war kein leichtes Unterfangen. Der General besaß nach wie vor großen Rückhalt, und niemand – ich spreche von den chilenischen Eliten – hatte Lust, Leichen aus dem Keller zu holen.«
»Haben Sie Pinochet verhört?«
»Ich habe ihn sogar unter Hausarrest stellen lassen!«
Kasdans Interesse für dieses Kapitel Zeitgeschichte wuchs:
»Wie verliefen die Verhöre?«
»Es war eine groteske Situation. Zunächst lehnte er es kategorisch ab, Vorladungen zu folgen. Also suchte ich ihn mit meiner Gerichtsschreiberin in seiner Villa in Santiago auf. Ich klingelte einfach. Mit einer Heerschar Journalisten in meinem Gefolge.«
»Und dann?«
»Er bot mir Tee an, und wir sprachen in aller
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