Choral des Todes
Stimme fort:
»Ich wurde in einen der kleinen blauen Lastwagen der DINA verfrachtet. Man nannte sie ›die blauen Fliegen‹. Man hat mir feuchte Watte in die Ohren gestopft und eine Ledermaske übers Gesicht gestülpt, sodass ich nicht sehen konnte, was vor sich ging. Dann ist der Wagen losgefahren. Sonderbare Gedanken schossen mir damals durch den Kopf. Ich habe Ihnen noch nicht das Wichtigste gesagt: Ich gehörte nicht zur Unidad Popular. Man kann nicht einmal sagen, dass ich ein Sozialist war. Damals hatte ich einen unsteten Lebenswandel. Drogenexzesse, viel Sex, etwas Meditation. Im Jahre 1970 bin ich in Katmandu gelandet. Dort habe ich Chilenen getroffen, die mir den Eindruck vermittelten, als lebe man unter Allende in einem Schlaraffenland. Als sei dort der Traum aller Aussteiger wahr geworden. Aus purer Neugier bin ich nach Santiago gefahren. Ich rauchte Cannabis. Ich nahm an den politischen Versammlungen der MIR teil, der Bewegung der revolutionären Linken. Vor allem, um Aktivistinnen aufzureißen. Ich wusste also nicht viel. Dennoch habe ich mir an jenem Tag im Polizeiwagen geschworen, den Mund zu halten. Folter und Angst haben eine merkwürdige Wirkung. Sie rütteln einen durch – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Es stellt sich heraus, ob man feige oder mutig ist. Als ich gesehen habe, dass diese Dreckskerle ihr Möglichstes taten, um mich zu quälen, habe ich beschlossen, nichts mehr zu sagen. Ein Held zu werden. Auch wenn es nutzlos war. Schließlich hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts Außerordentliches vollbracht. Ein würdiges Ende!«
Kasdan fragte:
»Wohin hat man Sie gebracht?«
»Ich weiß es nicht. Zweifellos in die Villa Grimaldi, die Hochburg der Folter in Santiago. Aber ich hatte keine Vorstellung von Raum und Zeit. Wenn man nichts hört, nichts sieht und in regelmäßigen Abständen ganz ohne Grund geschlagen wird, wird jedes Maß relativ.«
»Haben Sie damals Götz gesehen?«
»Nein. In jener Nacht … nun, ich glaube, es war Nacht … machte ich die Bekanntschaft der Militärs. Schläge. Beschimpfungen. Dann das Wannenbad. Sie tauchten mich mehrmals unter. Manchmal im Wasser, manchmal in kochend heißem Paraffin oder in Exkrementen. Ich schwieg immer noch. Dann wollten sie mich mit Strom foltern. Es war fast komisch, weil sie offensichtlich das Gerät nicht bedienen konnten. Da sind die Franzosen aufgetaucht.«
»Franzosen?«
»Ja, ich glaube, dass es Franzosen waren. Zu der Zeit sprach ich noch nicht Ihre Sprache.«
»Was taten sie dort?«
Hansen lächelte. Er trank einen Schluck Wein, und die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück.
»Ganz einfach: Sie bildeten die Chilenen aus. Sie zeigten ihnen, wie man diese stabförmigen Geräte, die an das Stromnetz angeschlossen waren, einsetzen musste. Im Übrigen hörte ich auch portugiesische Stimmen. Gewiss ›Schüler‹ aus Brasilien. Ja, ich befand mich mitten in einer Schulung.«
Die beiden Ermittler wechselten einen Blick. Franzosen, zweifellos Militärs, die nach Chile entsandt worden waren, um Folterer auszubilden. Männer, die Pinochets Militärjunta halfen, die subversive Front zu zerschlagen. Wenn Frankreich in den Putsch verwickelt war, hatte die Regierung allen Grund, Wilhelm Götz zu überwachen, der plötzlich den Mund nicht mehr halten wollte.
Volokine nahm den Faden wieder auf:
»Wie lange sind Sie in diesen … Amtszimmern geblieben?«
»Ich weiß es nicht. Ich fiel in Ohnmacht, kam wieder zu mir. Dann hat man mich weggebracht. Wieder der kleine LKW . Wieder die Wattebäusche und die Ledermaske. Diesmal sind wir lange gefahren. Mindestens einen Tag lang. Dann fand ich mich an einem völlig anderen Ort wieder. In einem Krankenhaus. Ich nahm den Geruch der Medikamente wahr. Aber es war ein seltsames Krankenhaus, das von Hunden bewacht zu sein schien. Das Bellen verfolgte uns überall.«
»Wurden Sie dorthin gabracht, damit man Sie ärztlich behandelte?«
»Das habe ich zunächst geglaubt. Ich war sehr naiv. In Wirklichkeit wurde das Verhör fortgesetzt. Oder vielmehr, genauer gesagt, das Experiment.«
»Das Experiment?«
»Ich war eine Art Versuchskaninchen, verstehen Sie? Meine Folterer hatten begriffen, dass ich nichts zu sagen hatte. Dagegen konnte mein Körper ihnen noch Auskunft erteilen. Das heißt, er diente ihnen dazu, zu erproben, welche Schmerzen man erträgt.«
Im Sessel zusammengesunken, hörte Kasdan zu. Diese Quälereien kannte er. Er wusste schon lange, dass sie bei diesem Fall in die
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