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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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halb skandinavischen, halb spanischen Akzent. Er ging in die Küche. Volokine nahm auf dem Sofa Platz, und Kasdan ließ sich mit seinem ganzen Gewicht in einen der Sessel fallen. Aus der Küche strömte Essensgeruch. Bohnen. Kürbis. Paprika. Mais.
    Der Armenier konnte ihren Gastgeber durch die Küchentür beobachten. Er ähnelte Velasco. Grauer Bart, elegante Bewegungen und ein leichtes Lächeln. Aber es gab auch einen Unterschied, etwas Nachlässiges, das mehr an einen Aussteiger als an einen Aristokraten erinnerte. In den siebziger Jahren, als Velasco sich in den vornehmen Klubs von Santiago um die Zukunft Chiles Sorgen machte, hatte Peter Hansen mit seinen sozialistischen Freunden die Welt neu gestaltet.
    Der Mann kam mit einer schwarzen Flasche, einem Korkenzieher und drei bauchigen Gläsern zurück. Er setzte sich in den zweiten Sessel und machte sich daran, den »berühmten Wein« zu öffnen. Seine Hände waren lang und feingliedrig.
    »Wussten Sie, dass es in Chile eine lange Tradition des Weinbaus gibt? Man sagt, sie gehe auf die Konquistadoren zurück, die Traubenkerne aus Spanien gesät haben, um Messwein zu erzeugen.« Er entkorkte die Flasche. »Ein Sänger hat über Chile geschrieben: ›Ein Land voller Hoffnung, in dem niemand an die Zukunft glaubt. Ein Land voller Erinnerungen, in dem niemand an die Vergangenheit glaubt.‹«
    Er füllte langsam die Gläser.
    »Kosten Sie.«
    Die Ermittler kamen der Aufforderung nach. Es war eine Ewigkeit her, dass Kasdan Wein getrunken hatte. Sein erster Reflex war, an sein Gehirn zu denken – und an seine Medikamente. Er hoffte, dass die Mischung von Tabletten und Alkohol ihm nicht schaden würde.
    »Also, was sagen Sie dazu?«
    »Hervorragend.«
    Kasdan hatte aufs Geratewohl geantwortet – er hatte keine Ahnung von Weinen. Und er konnte sich auch nicht auf den Jointraucher verlassen, der wie ein unentschlossener Hund an seinem Glas herumschnupperte.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Skandinavier.
    Kasdan begann ruhig und so vage wie möglich den Gegenstand ihrer Untersuchung zu erläutern. Aus seinen Ausführungen ging hervor, dass sie in einem Mordfall ermittelten, der »möglicherweise« mit Folterern der chilenischen Militärjunta in Verbindung stand, die sich »möglicherweise« in Frankreich niedergelassen hatten.
    Hansen wirkte nicht im Mindesten erstaunt:
    »Haben Sie Namen?«
    »Wir können mit Wilhelm Götz beginnen. Er lebt seit zwanzig Jahren in Paris.«
    Hansen zuckte zusammen. Mit bebender Stimme fragte er:
    »Haben Sie ein Foto?«
    Kasdan holte das Bild hervor, das er in der Ephorie hatte mitgehen lassen. Der Mann betrachtete aufmerksam den Abzug. Innerhalb weniger Sekunden veränderte sich seine Miene. Sein Gesicht wurde hohlwangig. Seine Augen, seine Falten, seine Lippen verschatteten sich. Dann veränderte sich seine Gesichtsfarbe. Grau und farblos wie sie nun war, schien sie mit seinem Bart zu verschmelzen.
    »Der Dirigent«, flüsterte er, indem er das Bild zurückgab.
    »Der Dirigent?«
    Hansen antwortete nicht. Er schwieg eine gute Minute, dann murmelte er mit seiner tiefen Stimme:
    »Entschuldigen Sie meine Bestürzung. Ich glaubte, darüber hinweg zu sein.« Er fasste sich wieder. »Ich dachte, dass dieser Mann tot sei. Oder besser gesagt, ich hoffte es …«
    Volokine griff ein.
    »Wir haben volles Verständnis für Ihre Erschütterung, Monsieur Hansen. Lassen Sie sich Zeit. Was können Sie uns über diesen Mann sagen? Warum nennen Sie ihn den ›Dirigenten‹?«
    Hansen holte tief Luft:
    »Ich wurde im Oktober 1974 verhaftet. Am Mittagstisch in meiner Wohnung. Bestimmt hatten mich Nachbarn angezeigt. Damals genügte es, Ausländer zu sein, um verhaftet zu werden. Einige wurden sogar auf offener Straße erschossen, direkt vor ihrem Haus – kurzer Prozess. Oft wurden auch die Denunzianten zusammen mit den anderen getötet. Es herrschte ein heilloses Chaos. Kurzum, die Mitglieder der paramilitärischen Polizei sind bei mir aufgekreuzt. Sie haben mich geschlagen und zur nächsten Polizeiwache geschleppt, wo ich wieder geschlagen wurde. Ich habe die Zähne zusammengebissen. Dort fand ein regelrechtes Blutbad statt. Ein Student wurde von einer Kugel im Rücken getroffen. Die Soldaten sprangen der Reihe nach mit beiden Füßen auf seine Wunde …«
    Hansen verstummte. Die Macht der Erinnerungen schnürte ihm die Luft ab. Volokine schlug einen sanften Ton an:
    »Was ist dann passiert?«
    Nach geraumer Zeit fuhr der Schwede mit tonloser

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