Choral des Todes
waren zwei – sehr leicht erraten.«
Mit der Hand strich er sich die grauen Haarsträhnen aus den Schläfen.
Anstelle der Ohren waren dort zwei vernarbte Wunden, die wie Stacheldraht aussahen. Kasdan zwang sich hinzusehen. Volokine wandte den Blick ab.
Der Gefolterte kam mit dumpfer Stimme zum Schluss:
»Sie dürfen nicht erstaunt sein, dass ich nicht antworte, wenn man an meine Tür klopft. Ich habe lediglich gesehen, dass sie sich plötzlich bewegte, als Sie sie aufstoßen wollten. Und seit Sie hier sind, lese ich von Ihren Lippen ab. Das Miserere der Kinder ist das Letzte, was ich in meinem Leben gehört habe.«
KAPITEL 35
»Arnaud? Hier Kasdan.«
»Rufst du mich wegen Weihnachten an?«
»Nein, wegen einer Auskunft.«
»Man ist solide geworden, Alter. Bist du nicht auf dem Laufenden?«
»Weißt du etwas über französische Ausbilder, die in den siebziger Jahren in Chile Folterunterricht erteilt haben sollen?«
»Nein.«
Jean-Pierre Arnauds Stimme hallte im Wagen wider. Volokine hörte schweigend zu: Er rauchte gerade ein großes Piece. Während der Tod von Naseer und Pater Olivier ihn kaltgelassen hatte, schien ihn Hansens Aussage erschüttert zu haben.
»Könntest du das überprüfen?«, fuhr Kasdan fort.
»Ich bin seit acht Jahren im Ruhestand. Genauso wie du. Es sind nur noch zwei Tage bis Weihnachten, und ich bin dabei, zu meinen Kindern zu fahren. So ist es nun mal, alter Freund. Wir können beide nichts dafür.«
Jean-Pierre Arnaud war Oberst in der 3. RPIMA , einer Spezialeinheit der französischen Armee, die in den achtziger Jahren in den militärischen Geheimdienst eingegliedert worden war. Er hatte seine Laufbahn als Waffenmeisterausbilder beendet. Zu dieser Zeit hatte ihn Kasdan kennengelernt. Beide besuchten dieselben Schulungen, die von den Herstellern automatischer und halbautomatischer Waffen durchgeführt wurden.
»Könntest du das in Erfahrung bringen?«, hakte Kasdan nach. »Kollegen anrufen? Die Namen dieser französischen Experten herausfinden?«
»Das liegt lange zurück. Sie dürften alle bereits tot sein.«
»Wir leben doch auch noch.«
Arnaud lachte hellauf:
»Du hast recht. Ich sehe zu, was ich tun kann. Aber erst nach den Feiertagen.«
»Nein. Es ist dringend!«
»Na gut, mal sehen. Kasdan, du bist eine Nervensäge.«
»Kannst du das Unmögliche möglich machen, oder nicht?«
»Ich ruf dich morgen an.«
»Danke, ich bin …«
»Du bist mir etwas schuldig, stimmt’s?«
»Genau.«
Der Oberst legte lachend auf. Er wirkte amüsiert und zugleich fassungslos über Kasdans Verhalten. Ein Ruheständler, der sich wie ein aktiver Polizist gebärdete!
Volokine murmelte:
»Leihen Sie mir heute Nacht Ihre Karre?«
Kasdan musterte ihn wortlos. Der Bursche zündete seinen Joint an. Dann fügte er grinsend hinzu:
»Ich hatte gedacht, dass Sie Ihren Volvo sowieso loswerden wollen.«
»Einen Scheiß will ich loswerden. Wofür brauchst du meine Karre?«
»Ich muss einige Dinge überprüfen.«
»Was für Dinge?«
»Ich möchte noch bei einigen Kindern nachbohren. Und auch bei den Chorknaben. El Ogro : Ich bin sicher, dass wir da einen wichtigen Hinweis finden. Der Chilene arbeitete seit zwanzig Jahren in Paris. Ich möchte alle ausfindig machen, die in seinen Chören gesungen haben. Sogar die Ältesten. Vor allem die Ältesten. Sie werden sich erinnern. Sie werden mit mir sprechen.«
Kasdan drehte den Zündschlüssel um:
»Es gibt Besseres zu tun. Wir müssen noch einmal die politische Fährte aufnehmen. So oder so – die Vergangenheit hat Götz eingeholt.«
»Alles ist miteinander verbunden. Die mordenden Kinder. Das Miserere . Die chilenische Diktatur. Die drei Opfer, die auch Täter sind. Geben Sie mir Zeit bis morgen früh. Anschließend befassen wir uns mit den damaligen französisch-chilenischen Mauscheleien. Versprochen.«
Kasdan bog in die Rue de la Chapelle ein und fuhr in Richtung der Hochbahn.
»Okay«, sagte er leicht ermattet. »Ich setze mich ab und überlasse dir die Karre. Aber pass auf, klar? Morgen früh um acht legen wir wieder los. Weihnachten kommt uns gelegen. Die Mordkommission wird zwar langsamer als sonst in die Gänge kommen, aber auch nicht untätig bleiben …«
»Marchelier, der die Ermittlungen übernommen hat – was ist das für ein Typ?«
»Nicht übel. Ein Streber. Auf dem Revier nennt man ihn Marchepied – Trittbrettfahrer.«
»Warum?«
»Verschlagen. Verstohlen. Der Typ Mann, der mit seiner Frau schläft, ohne sie zu
Weitere Kostenlose Bücher