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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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tiefsten Abgründe menschlicher Niedertracht blicken würden.
    »Was hat man mit Ihnen im Krankenhaus gemacht?«, fragte er.
    »Ich trug keine Augenbinde mehr. Die weiß gekachelten Wände, der Geruch von Desinfektionsmitteln, das Klirren der Instrumente. Obwohl ich von der Erschöpfung und dem Schmerz ganz benommen war, bahnte sich die Angst einen Weg in mein Gehirn. Ich wusste, dass ich schon tot war. Damit will ich sagen: Ich war ein desaparecido , ein Verschollener. Ein Mann, der im Melderegister nicht mehr auftauchen würde. Wissen Sie, dass die DINA keine schriftlichen Unterlagen hatte? Keine Spur, keine Wahrheit. Eine perfekte Vernichtungsmaschinerie.«
    Volokine hakte behutsam nach:
    »Monsieur Hansen, was ist im Krankenhaus passiert?«
    »Ärzte erschienen. Sie trugen OP -Masken.«
    »Und Götz, der Mann auf dem Foto? War er auch dort?«
    »Ja, in diesem Augenblick erschien er auf der Bildfläche. Er trug weder Kittel noch Maske. Er war schwarz gekleidet und sah wie ein Priester aus. Einer der Chirurgen wandte sich an ihn. Rief ihn beim Namen. Die Worte, die er damals sprach, waren so ungewöhnlich, dass ich sie nie vergessen werde.«
    »Welche Worte?«
    »Das Konzert kann beginnen.«
    »Das Konzert?«
    »Ich versichere Ihnen, das hat er gesagt. Und es war wirklich das, was geschah. Einige Minuten später, während die Chirurgen ihre Instrumente bereitlegten, vernahm ich Stimmen. Kinderstimmen. Dumpf, gedämpft, wie in einem Albtraum.«
    »Was sangen die Kinder?«
    »Damals hörte ich gerne klassische Musik, darum habe ich das Werk sofort erkannt. Es war das Miserere von Gregorio Allegri. Eine berühmte A-cappella-Komposition.«
    Die Ärzte hatten ihr Versuchskaninchen zu den Klängen eines Chorals operiert.
    Hansen fuhr fort:
    »Folterknechte, die Musik lieben. Woran erinnert Sie das? An die Nazis natürlich! Die Musik stand im Mittelpunkt ihres barbarischen Regimes! Letztendlich überraschte mich das nicht!«
    »Warum?«
    »Weil meine Ärzte Deutsche waren. Sie unterhielten sich auf Deutsch.«
    Vor Kasdans geistigem Auge stiegen alte Schreckensbilder auf. Nazis. Südamerikanische Diktaturen. Ein fast logischer Zusammenhang.
    Nach kurzem Zögern beschloss der Armenier, die entscheidende Frage zu stellen:
    »Was haben die Ärzte mit Ihnen gemacht?«
    »Ich möchte nicht darüber sprechen. Sie haben mich verletzt, zerschnitten, operiert. Bei vollem Bewusstsein, versteht sich. Ich habe Höllenqualen durchlitten, während ich im Hintergrund immer die Stimmen der Kinder hörte, die sich mit dem Geräusch der Instrumente und meinen Schreien vermischten, wenn mein Körper vor Schmerz zu bersten schien.«
    Hansen verstummte. Seine dunklen Augen waren weit aufgerissen. Die beiden Besucher schwiegen taktvoll. Dann fragte Kasdan:
    »Wie sind Sie da rausgekommen?«
    Hansen fuhr zusammen. Langsam erschien ein Lächeln auf seinen Lippen:
    »Hier wird meine Geschichte interessant, das heißt, wirklich originell. Die Ärzte haben mir gesagt, dass Sie mir eine Vollnarkose geben würden.«
    »Damit Sie keine Schmerzen spürten?«
    Der Schwede lachte und leerte sein Glas:
    »Das war nicht der Stil des Hauses. Sie wollten einfach ein Spielchen mit mir treiben.«
    »Ein Spiel?«
    Die Chirurgen haben sich über mich gebeugt und mir erklärt, dass ich eine Chance hätte, meine Haut zu retten. Es genüge, dass ich ihnen eine richtige Antwort gebe. Sie würden mich operieren, ein Organ entfernen und abwarten, bis ich aus der Narkose erwachte. Dann müsse ich den Schmerz lokalisieren. Ich müsse erraten, welches Organ sie mir entfernt hatten. Nur unter dieser Bedingung könnte ich meine Haut retten. Wenn es mir nicht gelang, würden sie mir so lange andere Organe entnehmen – allerdings ohne Narkose –, bis der Tod ihnen Einhalt gebieten würde.«
    Im Wohnzimmer herrschte beklemmendes Schweigen. Weder Kasdan noch Volokine wagte die Vernehmung fortzusetzen.
    Schließlich fuhr Hansen fort:
    »Ich erinnere mich daran wie an einen Traum. Ich bin sanft eingeschlafen beim Klang der Kinderstimmen. Ich befand mich in einer Art Trance. Vor meinem Unterbewusstsein tauchten Bilder auf: eine bräunliche Niere, eine schwarze Leber, blutige Hoden. Was würden sie mir entnehmen? Würde ich meinen Schmerz identifizieren können?«
    Der Schwede hielt einen Augenblick inne. Die beiden Partner hielten den Atem an.
    »Letztendlich«, flüsterte Hansen, »habe ich Glück gehabt. Ich konnte die Organe, die mir die Chirurgen entnommen haben – denn es

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