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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Angehörigen in Sicherheit bringen lassen, sich in seinem Büro eingeschlossen und von der Wand das Gewehr abgenommen, das ihm Fidel Castro geschenkt hatte. Ein Heldentum, das in unseren Tagen recht unüblich ist.
    Allendes Ende hatte etwas Pathetisches und Tragisches, das einem die Luft abschnürte. Kasdan betrachtete einen Augenblick lang Allendes berühmtes Foto – sein letztes. Das Porträt des kleinen schnurrbärtigen Mannes im Rollkragenpullover mit schief aufgesetztem Helm und seiner alten Pistole. Ein Held, der für sein Ideal gestorben ist. In seiner letzten Radioansprache hatte Allende erklärt: »Ich werde mit meinem eigenen Leben für die Loyalität bezahlen, die mir das Volk entgegengebracht hat.« Und weiter: »Eine Gesellschaft, die sich im Aufbruch befindet, hält man weder durch Verbrechen noch Gewalt auf. Die Geschichte ist mit uns, und es sind die Völker, die die Geschichte machen.«
    Kasdan biss sich auf die Lippen. Die Sozialisten hatten auf der ganzen Linie unrecht, aber er musste zugeben, dass sie keine Feiglinge waren. Deswegen bewunderte er im Grunde seines Herzen diese Idealisten. Er wusste, dass ihr großer Traum nie sterben würde. Es war ein Ideal, ein Aufruf, der verschiedene Formen annehmen und sich in dem Satz zusammenfassen lassen würde, den die Aktivisten tausendmal wiederholt hatten: »Wenn ein Revolutionär fällt, gibt es immer zehn Hände, die sein Gewehr aufheben.«
    Die Geschichte der Repressionen interessierte ihn weniger. Immer wieder die gleichen Gräueltaten. Die Zahlen, die Daten, die Massaker, die sich unablässig im Laufe der Menschheitsgeschichte wiederholten. Heute schätzt man, dass 10 000 Menschen während des Putsches getötet wurden. 90 000 Menschen wurden in den ersten Monaten des Pinochet-Regimes ins Gefängnis geworfen. 163 000 Chilenen waren gezwungen worden, ins Exil zu gehen. 3000 waren verschwunden. Keine Leichen, aber auch kein Lebenszeichen. Ausgelöscht. In Luft aufgelöst.
    Kasdan überflog die Auflistung der praktizierten Folterungen: zunächst im Stadion von Santiago, wo die Gefangenen zusammengeführt worden waren, dann in den Gefängnissen und Verhörzentren, deren berühmtestes die Villa Grimaldi gewesen war. Stromfolter, Vergewaltigungen, Wannenbäder, Misshandlungen aller Art. Nichts Neues für Kasdan.
    Doch auf diesen Seiten fand sich kein Hinweis auf den geheimnisvollen Ort, wohin man Peter Hansen entführt hatte. Wer waren diese Deutschen, diese Musik liebenden und zugleich sadistischen Chirurgen? Wo hatte Wilhelm Götz Knabenchöre geleitet, während Gefangene bei vollem Bewusstsein operiert wurden? Wer waren die französischen Militärs, die den Folterern des Regimes Beistand leisteten und ihre ›Überredungstechniken‹ verfeinerten?
    Kein Wort darüber in den Büchern. Weder ein Hinweis auf französische Experten noch auf reaktivierte Nazifolterer. In seinen Büchern war vielmehr die Rede von Dummköpfen, von Soldaten, die sich mit komischen Spitznamen schmückten – Mano Negra (Schwarze Hand) oder Muñeca del Diablo (Puppe des Teufels) –, oder von Bauern, die des Schreibens und Lesens unkundig waren und sich durch ihre Grausamkeit und Skrupellosigkeit hervorgetan hatten.
    Der Armenier rieb sich die Augen. Zwei Uhr morgens. Er hatte nichts Neues erfahren. Jedenfalls nichts, dass die aktuellen Morde hätte erhellen können. Wenn er über die Fantasie eines Feuilletonisten verfügt hätte, so hätte er sich Folgendes ausgemalt: Alte chilenische Männer deutscher Herkunft, die um ihre Ruhe bangten, hatten mordende Kinder nach Frankreich geschickt, um lästige Zeugen auszuschalten.
    Absurd. Und das erklärte nicht einmal alle Vorkommnisse. Warum hätte man dann Pater Olivier umgebracht? Warum schienen die Chöre eine wichtige Rolle in dieser Mordserie zu spielen? Warum folgten die Morde selbst einem Ritual? Bestand ein Zusammenhang zwischen dem länger zurückliegenden Verschwinden von Kindern und diesen Verbrechen?
    Kasdan stockte angesichts all dieser Fragen, auf die eine Antwort fehlte. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Wieder hörte er die leise Stimme der vergangenen Nacht. Wer ist da, verdammt? Eine äußerst sanfte, fröhliche Stimme. Eine Stimme, die spielen wollte. Er begriff, dass er Angst hatte. Am liebsten hätte er Volokine angerufen, aber er beherrschte sich.
    Plötzlich klingelte sein Handy.
    »Hier Mendez. Interessieren dich die Ergebnisse, die die Untersuchung der Wunden des Mauritiers auf Metallspuren erbracht

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