Choral des Todes
die offen geblieben war.
Bevor er die Kirche verließ, wollte er noch etwas anderes überprüfen. Etwas, das ihn seit kurzem umtrieb. Er wählte die Handynummer eines spanischen Polizisten, der in Tarifa Dienst leistete. Der Mann sprach französisch. Sie hatten gemeinsam an dem Fall eines Pädophilen gearbeitet, der illegal eingereiste afrikanische Kinder aufriss und sie »Gonzo«-Filme, also Pornos, drehen ließ. Das Schlimmste, was man sich vorstellen kann, mit einem zusätzlichen widerlichen Kniff.
»José?«
»Qué?«
»José, hier spricht Volokine. Wach auf. Ich bin an einem Fall und brauche dringend eine Auskunft.«
Der Mann räusperte sich und kramte ein paar Brocken Französisch aus seinem schlaftrunkenen Gehirn hervor.
»Was ist los?
»Nur eine Information über ein spanisches Wort.«
»Was für ein Wort?«
» El Ogro – was bedeutet das?«
»Der Menschenfresser.«
»Ist das alles?«
Der spanische Polizist schien nachzudenken. Volokine stellte sich vor, wie er in seinem dunklen Zimmer seine Träume abschüttelte, um wieder klare Gedanken zu fassen.
»Man kann sagen, dass noch etwas mehr in dem Wort steckt.«
»Das heißt?«
» El Ogr o entspricht dem ›Schwarzen Mann‹ beziehungsweise dem boogeyman im Englischen.«
»Der, der die Kinder im Schlaf holt?«
»Ja, so ist es.«
»Danke, José.«
Volo klappte sein Handy zu, stopfte seine Notizblätter in seine Umhängetasche und zog seine Jacke über. Er wollte gerade die Kirche verlassen, als er ein verdächtiges Knacken vernahm.
Er blickte sich um. Nur seine Lampe erhellte den steinernen Raum. Aufgeschreckt schaltete Volokine sie aus und wartete. Schwaches Licht der Straßenlaternen drang durch die Fenster. Keine Geräusche. Zugleich hatte er den Eindruck, dass die Kirche von kaum wahrnehmbaren Klängen erfüllt war. Wer war da?
Erneutes Knacken im hinteren Teil des Chors in Nähe des Altars. Der Russe stieg auf den Sockel einer Säule, von dem aus er einen Überblick über die Stuhlreihen hatte.
Er sah nichts, doch er spürte es:
Er war nicht allein, und »sie« waren mehrere …
Plötzlich sah er einen Schatten, spitz wie ein Dolch, im schwachen Licht der Rosette auf dem Mittelgang. Der gestreckte Schatten einer Gestalt, die auf dem Kopf einen kleinen Hut trug. Oder eine Mütze.
Dann verschwand sie. Ein weiteres Knistern aus der Nähe des Altars. Volokine warf den Kopf herum und sah die Umrisse einer Gestalt zwischen einer Ecke des Orgelgehäuses und einer Säule. Ein nicht einmal einen Meter vierzig großes Gespenst. Mit einem Hut auf dem Kopf. Mein Gott, was ging hier vor? Er hatte den Eindruck, auf einem Trip zu sein.
Es verging eine Minute in der vollkommensten Stille. Er meinte schon, geträumt zu haben, doch da hallte ein unterdrücktes höhnisches Lachen wider. Dann noch eins, woanders. Und noch einmal eins … Kichernde Kobolde.
In seinen Adern spürte Volokine eine seltsame Wärme, die sich mit eisiger Angst vermischte. Unwillkürlich trat ein Lächeln auf seine Lippen. »Ihr seid dort …«, flüsterte er mit einer Stimme, die von weither kam.
Und er breitete seine Arme aus wie der heilige Franz von Assisi, als er zu den Vögeln sprach.
Im nächsten Augenblick gewann die Angst wieder die Oberhand und riss ihn aus seinen Visionen. Ganz hinten in seinem Kopf hämmerte diese Überzeugung: Gegen sie hatte er keine Chance.
Die Tür, die der Küster offen gelassen hatte, war nur wenige Meter entfernt. Ein Knacken unter der Orgel war für ihn das Signal. Volokine wich zur Seite. Er fand den Türstock und stahl sich hinaus wie ein Reliquiendieb.
KAPITEL 38
La Défense. Nanterre-Parc. Nanterre-Universität …
Volokine raste über die Autobahn, die die graue Ebene der Banlieue überragte und wie ein Messer zerschnitt. Er kannte diese Strecke. Es war sein Weg, wenn er die alte Nicole im Jugendheim von Épinay-sur-Seine besuchte. Widerwillig, denn er hegte keinerlei zärtliche Gefühle für die alte Erzieherin. Er wollte sein Herz nicht an eine Ersatzfamilie hängen. Er hatte nie Eltern gehabt. Kein Grund also, sich in dieser Hinsicht etwas vorzulügen. Volokine wollte hart sein. Unverfälscht. Eine echte Waise. Gleichgültig. Ohne Wurzeln und ohne Vergangenheit.
Um diese Gedanken zu verjagen, schaltete er das Radio ein. France-Info . Die Nachricht von der Ermordung von Pater Olivier wurde immer wieder durchgegeben. Es kam selten vor, dass an Weihnachten ein Priester in einer Kirche ermordet wurde. Volokine hörte diese
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