Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Volokine einen anderen Ton an:
    »Geben Sie mir nun seine Telefonnummer und Anschrift, oder ziehen Sie es vor, dass ich bei Ihnen mit einem Streifenwagen aufkreuze?«
    Meistens bekam er sofort die Telefonnummer. Dann rief er den ehemaligen Chorknaben an. Wiederum eine verschlafene Stimme und ausweichende Antworten. Die erwachsen gewordenen Jungen von damals erinnerten sich an nichts.
    Er musste noch drei Pfarreien ausquetschen, etwa vierzig Telefonate führen, einen Stopp bei McDonald’s an der Place Clichy einlegen, das einzige, das bis zwei Uhr morgens geöffnet hatte, um wieder zu Kräften zu kommen, bevor er schließlich auf eine heiße Spur stieß. In der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas im 5. Arrondissement.
    Volokine hatte die Eltern von Régis Mazoyer um 3.40 Uhr angerufen. Nachdem er sich lange hatte bitten lassen, hatte der Vater, ein Arbeiter, der wie ein Pariser Straßenjunge sprach, endlich ausgepackt. Sein Sohn, der ein großer Sänger gewesen war, hatte bei der Aufzeichnung des Miserere im Jahr 1989 in der Kirche Saint-Eustache de Saint-Germain-en-Laye den Solopart gesungen. Heute, mit 29 Jahren, hatte er eine Autowerkstatt in Gennevilliers. Er lebte und schlief an seinem Arbeitsplatz.
    Volokine wählte die Telefonnummer – und siehe da, welche Überraschung! Eine muntere, hellwache Stimme meldete sich schon beim zweiten Klingeln. Der Polizist kam direkt zur Sache:
    »Schlafen Sie nicht?«
    »Ich bin ein Frühaufsteher. Und ich bin mit Aufträgen in Verzug.«
    Der Russe stellte sich vor und legte mit seinen Fragen los. Er rechnete mit den gewohnten Antworten, die auf verschwommenen Erinnerungen beruhten. Aber Régis Mazoyer erinnerte sich an kleinste Details. Volokine ahnte, dass der Automechaniker vom Gesang begeistert war und dass die Platte, die er unter Götz’ Leitung aufgenommen hatte, einen Höhepunkt in seinem Leben darstellte.
    Der Mann fragte:
    »Was ist mit Monsieur Götz los? Gibt es ein Problem?«
    Volokine schwieg eine Weile. Dann verkündete er mit gedämpfter Stimme die Neuigkeit. Stille am anderen Ende der Leitung. Offenbar prallten im Geiste seines Gesprächspartners zwei Epochen aufeinander. Eine bewegende Vergangenheit und eine beängstigende Gegenwart, in der kein Raum mehr für nostalgische Sehnsüchte blieb.
    »Wie … Ich will sagen, wie ist er umgebracht worden?«
    »Ich erspare Ihnen die Details. Erzählen Sie mir von ihm. Von seinem Verhalten.«
    »Wir standen uns sehr nahe.«
    »Wie nahe?«
    Am anderen Ende der Leitung ein leises Lachen.
    »Nicht so, wie Sie denken, Polizeihauptmann. Ihr Polizisten seht überall das Schlechte.«
    Am liebsten hätte ihm Volokine geantwortet, dass das Böse überall sei. Aber er beherrschte sich und forderte ihn auf:
    »Schildern Sie mir Ihre Beziehung.«
    »Herr Götz vertraute sich mir an.«
    »Warum?«
    »Weil er mich an die Hand genommen hatte. Er glaubte, dass ich es als Sänger weit bringen könnte. Aber es musste schnell gehen. Die Jahre waren gezählt. Ich war schon zwölf Jahre alt. Nur noch ein oder zwei Jahre bis zum Stimmbruch.«
    »Wirkte er beunruhigt?«
    »Ja, ziemlich.«
    »Im Jahr 1989?«
    Volokine hatte blindlings einen Köder ausgeworfen. Er war selbst überrascht, dass der andere anbiss.
    »Manchmal«, fuhr Mazoyer fort, »blieben wir beide abends noch da, um zu üben, und ich spürte, dass er Angst hatte. Und ich weiß auch, wovor er sich fürchtete.«
    »Wovor?«
    »Eines Abends, als ich das Miserere für die Plattenaufnahme probte, wirkte Götz besonders nervös. Unruhig blickte er in alle Winkel der Kirche, als ob dort etwas Bedrohliches auftauchen könnte.«
    »Und dann?«
    »Dann ist er in Tränen ausgebrochen. Das war ein Schock für mich. Für mich weinten Erwachsene nicht.«
    »Was hat er Ihnen gesagt?«
    »Etwas Seltsames. Er meinte, dass die Kinder allen Grund hatten, an die Geschichten zu glauben, die man ihnen erzählte. Dass es manchmal auch in der Wirklichkeit Menschenfresser gebe.«
    Volokine sträubten sich die Haare im Nacken:
    »Hat er von Menschenfressern gesprochen? Hat er den Ausdruck El Ogro gebraucht?«
    »Ja. Ich erinnere mich daran. Diesen Ausdruck hat er gebraucht.«
    »Geben Sie mir Ihre Adresse.«
    »Aber …«
    »Ihre Adresse.«
    Mazoyer diktierte ihm seine Adresse. Volokine kündigte an:
    »Ich bringe Croissants mit.«
    Der Russe befand sich immer noch in der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas. Der Küster war wieder ins Bett gegangen und hatte ihn gebeten, durch die Seitentür hinauszugehen,

Weitere Kostenlose Bücher