Choral des Todes
wecken.«
Volokine lächelte noch einmal mit halb geschlossenen Augen. Der Place de la République kam in Sicht. Der Verkehrslärm. Die Lichter. Der Trubel des nächtlichen Paris. Kasdan wollte nicht nach Hause. Gerne wäre er die ganze Nacht in der Stadt herumgefahren, in Begleitung dieses schrägen Vogels.
Er hielt auf dem Boulevard Voltaire vor der Kirche Saint-Ambroise an, ohne den Motor auszuschalten:
»Kennst du dich mit diesem Wagen aus? Du musst höllisch auf die Zündung aufpassen, sie …«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Vergessen Sie mich einfach. Die Nacht gehört mir.«
KAPITEL 36
Kasdan braute sich einen starken Kaffee, der gut zu den Baklavas passte, die die Witwe aus Alfortville ihm auf die Fußmatte gelegt hatte. Ihre Nachricht ignorierte er. Er war nicht in der Stimmung für Liebesgurren. Er hatte den geregelten Bahnen seines Ruheständlerdaseins den Rücken gekehrt und war wieder in die Haut des Polizisten geschlüpft. In die Haut des Kämpfers.
Er ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Den Kaffee und das Gebäck hatte er auf einem Silbertablett angerichtet, einer Trophäe, die er bei einem armenischen Backgammonspiel gewonnen hatte. Er hätte das Licht ausschalten und sofort einschlafen können, aber er dachte an Hansen, und dieser Gedanke hielt ihn wach. Sie waren so erschüttert über seinen Bericht gewesen, dass sie ihn weder über die anderen in Frankreich lebenden Folterer noch über die Anwälte befragt hatten, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit spezialisiert waren.
Er griff nach einem der Bücher über die neuere Geschichte Chiles, die am anderen Ende seines Bettes lagen. Als er es aufschlug, spürte er die Wirkung des Kaffees auf sein Nervensystem.
Zunächst ein allgemeiner Überblick über die Ereignisse. Die sozialistische Regierung, die sich drei Jahre hielt, von 1970 bis 1973. Dann die Diktatur, die siebzehn Jahre dauerte. Über die Zeit vor dem Militärputsch hatte Simon Velasco gesagt: »In wirtschaftlicher Hinsicht stand Chile damals am Rande des Abgrunds.« Er hatte recht. Streiks, Bauernaufstände, Lebensmittelknappheit. Durch Allendes Sozialismus war Chile in eine tiefe Krise geraten. In Wirklichkeit aber leisteten die Vereinigten Staaten den Missständen Vorschub, indem sie die Maßnahmen des sozialistischen Präsidenten sabotierten, den Gewerkschaften den Kopf verdrehten und die öffentliche Meinung manipulierten. Nachdem sich die Lage immer mehr verschlechtert hatte, hatte Washington den Hahn zugedreht. Im Jahre 1971 hatten die USA Chile alle Kredite gesperrt. Bis auf die Geheimmittel, die sie gewissen Kreisen in der Armee zukommen ließen, um sie auf einen Putsch einzustimmen.
Warum so viel Hass? Im Laufe der Lektüre erhielt Kasdan Antworten auf diese Frage. In den Augen der US -Regierung hatte Salvador Allende zwei Fehler. Einen ideologischen Fehler: Er war Sozialist. Einen wirtschaftlichen Fehler: Er hatte vor, die Kupfergruben – die wichtigste Einnahmequelle des Landes –, die in ihrer Mehrzahl US -amerikanischen Bergbaugesellschaften gehörten, zu verstaatlichen. Onkel Sam mag es nicht, wenn man ihm das wegnimmt, was er gestohlen hat. Die Geschichte der Vereinigten Staaten ist nichts anderes als ein bewaffneter Raubüberfall.
Sommer 1973. Nichts geht mehr. Immer mehr Streiks werden ausgerufen. Das Land ist blockiert, die Wirtschaft lahmgelegt. Die Regierung ruft den Notstand aus. Salvador Allende erklärt sich bereit, durch ein Plebiszit über seinen Verbleib im Amt entscheiden zu lassen, aber er hat nicht mehr die Zeit dazu. Am 11. September 1973 stürzt die faschistisch-militante Organisation Patria y Libertad die »Volksregierung«. Die Sozialisten nennen sie »Gehilfen des amerikanischen Imperialismus«. Auf ihrem Banner prangt eine schwarze Spinne, die an das Hakenkreuz der Nazis erinnert.
Kasdan war froh darüber, sein Gedächtnis aufzufrischen. Wie alle hatte er von Pinochets Putsch, vom Sturm auf den Präsidentenpalast La Moneda, vom heldenhaften Tod Salvador Allendes gehört. Aber er war in erster Linie Polizist, und damals waren all das für ihn Machenschaften radikaler Linker. Und die Linke war für ihn gleichbedeutend mit »Tumult«, »Utopie«, »Saustall«.
Er blätterte weiter in seinen Büchern. Die Armee hatte den Präsidentenpalast bombardiert, Allende aufgefordert, sich zu ergeben, und seine Regierung für abgesetzt erklärt. Der Staatsmann war allein im »Saal der Unabhängigkeit« zurückgeblieben, hatte seine
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