Choral des Todes
Zwölferschlüsseln und Schraubenziehern auf der Werkbank stand, knisterte und zischte. Der Duft der arabischen Kaffeemischung vermischte sich mit dem Öl- und Benzingeruch.
Mazoyer ging auf ihn zu, während er sich noch die Hände rieb:
»Nach Ihrem Anruf habe ich nachgedacht. Ich habe mich an diese ganze Zeit erinnert. Meine Ruhmeszeit! Ich war einer der Solisten des Chores, wussten Sie das? Ich habe Fortbildungen gemacht. Wir gaben Konzerte. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, dass ich der Stolz meiner Eltern war. Möchten Sie die CD hören? Ich habe sie hier.«
Bei dieser Vorstellung gefror Volokine das Blut in den Adern:
»Nein, danke. Leider habe ich nur wenig Zeit …«
Régis wirkte enttäuscht. Er schlug einen ernsteren Ton an:
»Egal, es ist eine verrückte Geschichte. Wie ist das passiert?«
Volokine schilderte den Mord, die Verletzungen, die dem Opfer mit einem spitzen Gegenstand beigebracht worden waren, verriet aber sonst nichts. Nichts über das Rätsel der Waffe. Nichts über das Leiden des Opfers. Kein Wort über die Tatsache, dass dieser Mord eine ganze Serie von Bluttaten nach sich gezogen hatte.
Der Automechaniker servierte Kaffee in Bechern und setzte wieder sein strahlendes Lächeln auf. Von ihm ging Lebenskraft und gute Laune aus, die dem Russen wohltaten. Etwas Merkwürdiges fiel ihm auf: Mazoyer hatte Handschuhe aus weißem Filz übergestreift.
Volokine griff nach einem Croissant. Er hatte einen mächtigen Kohldampf. Wie alle Kerle auf Entzug, die sich vollstopfen, um den anderen Hunger, den des Blutes, zu vergessen.
Der Automechaniker griff seinerseits in die Papiertüte und zog ein goldbraunes Croissant heraus:
»Wer kann das Ihrer Meinung nach getan haben?«
Der Russe gab sich vertraulich:
»Ich will Ihnen nicht verheimlichen, dass wir im Dunkeln tappen. Darum verfolgen wir jedes Indiz.«
»Bin ich ein Indiz?«
»Nein. Aber was Sie mir vorhin über El Ogro erzählt haben, interessiert mich. Es ist nicht das erste Mal, dass ich davon höre. Ich frage mich, was sich hinter diesem merkwürdigen Wort verbirgt. Götz hatte Angst, das steht fest. Womöglich besteht ein Zusammenhang zwischen diesem Geheimnis und seiner Ermordung.«
»Nehmen Sie das, was ich Ihnen erzählt habe, nicht allzu wörtlich. Es sind Kindheitserinnerungen.«
Volokine hatte sich auf einen riesigen Wagenheber gesetzt. Er mochte diese Werkstatt, die ihm wie ein behaglicher, vertrauter Abstellraum vorkam. Hinter einem Stapel Reifen lief ein elektrischer Heizofen auf vollen Touren.
»Erzählen Sie mir von Götz«, sagte er. »Über seine Beziehung zu den Chorknaben, zur Chormusik.«
Mazoyer antwortete nicht sofort. Er ordnete seine Erinnerungen.
»Götz war auf der Suche nach Reinheit«, sagte er schließlich. »Ich glaube, dass er sehr religiös war.« Volokine erinnerte sich an das Kruzifix, das in seinem Zimmer in der Rue Gazan hing. »Die christliche Askese: Das war sein Weg. Darum leitete er Knabenchöre. Er liebte diese Atmosphäre. Diese Bündelung von Unschuld.«
»Meinen Sie … wegen der Stimmen?«
»Sicher. Nichts ist reiner als die Stimme eines Kindes. Weil auch unsere Körper rein waren.«
»Was meinen Sie damit?«
»Wir waren noch nicht in der Pubertät. Kein Sex. Kein klar umrissenes Verlangen. Das war es, was Götz liebte. Ich war schon etwas älter. Ich hatte begriffen, dass Götz Männer liebte. Ich glaube, dass er seine Homosexualität als einen Makel betrachtete. Durch den Kontakt mit uns wusch er sich von seinen Sünden rein, verstehen Sie?«
Götz hatte also sein Verlangen nie an Kindern gestillt. Das Gegenteil war der Fall: Die Kinder läuterten ihn mit ihrer Unschuld. Im Übrigen machte Götz nicht nur die Homosexualität zu schaffen. Auch Jahre voller Verbrechen, Folterungen, stillschweigender Komplizenschaft mit chilenischen und deutschen Schlächtern mochten ihm zugesetzt haben.
Dann hörte er wieder die Stimme des Automechanikers, die nun träumerisch klang:
»Auch wir waren glücklich darüber, rein zu sein … Es war uns nicht wirklich bewusst, aber selbst diese Unbewusstheit war ein Zeichen der Reinheit. Wir machten Blödsinn auf den Fluren. Wir quengelten, wenn wir singen sollten, und dann auf einmal …« Er schnippte mit den Fingern. »… erklangen unsere Stimmen im Kirchenschiff und enthüllten die Reinheit unseres Wesens.«
Volokine machte sich über sein drittes Croissant her. Für einen Automechaniker wirkte der Kerl ziemlich abgehoben. Er beendete seine
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