Choral des Todes
Rede mit einem Murmeln.
»Ja, wirklich, wir waren Engel. Aber bedrohte Engel.«
»Bedroht von wem?«
»Besser gesagt, wovon. Vom Stimmbruch. Wir wussten, dass dieser Stand der Gnade nicht ewig dauern würde. Ein zauberhaftes Intermezzo.«
Der Mann im blauen Monteuranzug stand auf und goss sich wieder Kaffee in den Becher:
»Ich habe lange über dieses Phänomen nachgedacht. Der Stimmbruch – das ist die Pubertät. Und die Pubertät – das ist der Sex. Ja, wir büßten unsere Engelsstimmen ein, wenn das sinnliche Verlangen in unserem Körper erwachte. Die Sünde. In dem Maße, wie das Böse sich in uns ausbreitete, veränderte sich unsere Stimme. Die Pubertät ist die Vertreibung aus dem Paradies, im biblischen Sinne des Wortes.«
Auch Volokine füllte wieder seinen Becher. Er spürte, dass er einen entscheidenden Punkt der Befragung erreicht hatte.
»Ist es das, was Götz meinte?«
»Bestimmt. Er fürchtete den Stimmbruch – um unseretwillen. Ich habe oft an ihn gedacht. Später, als ich zwanzig war. Da sind mir seine Worte wieder in den Sinn gekommen. Ich habe so einiges verstanden …«
Schweigend trank er ein paar Schlucke Kaffee. Wehmut hüllte ihn ein, die in dem Dampf, der aus seinem Becher aufstieg, Gestalt anzunehmen schien. Volokine hätte sich gern einen Joint gedreht, aber er sagte sich, dass das hier nicht angebracht war. Obgleich er sicher war, dass der andere gern das Gespräch in die Länge gezogen hätte.
Régis fuhr mit entrückter Stimme fort:
»Ich habe mich von einigen seiner Worte täuschen lassen.«
»Von welchen?«
»Nun, von diesem berühmten El Ogro , dem Menschenfresser, von dem er gesprochen hat. Damals glaubte ich, er würde die Kinder mitnehmen, die schlecht sangen. Um sie zu bestrafen. Aber letzten Endes glaube ich, dass es das Gegenteil war.«
»Das Gegenteil?«
»Der Menschenfresser, von dem Götz sprach, fühlte sich von den makellosen Stimmen der Kinder angezogen. Je besser wir sangen, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er uns mitnehmen würde.«
Volokine dachte an Tanguy Viesel. An Hugo Monestier. Seine Überzeugung verstärkte sich. Kindesentführungen, deren Beweggrund die Stimme war. Er musste sich über die Klangfarbe und die Stimmlage der beiden Kinder erkundigen. Erfahren, ob sie Gesangsvirtuosen waren.
»Ich glaube, dass Götz’ Angst immer mehr wuchs. Er arbeitete mit uns, sorgte für die Vervollkommnung unserer Stimmen, doch er achtete darauf, dass wir nicht zu hoch, nicht zu laut sangen. Weil diese Perfektion das Monstrum anlocken würde.«
»Haben Sie Beweise dafür?«
»Natürlich nicht. Es ist nicht wirklich … rational zu begründen.«
»Schießen Sie los.«
»Nun gut, jene berühmte Vorführung, von der ich Ihnen erzählt habe. Als wir beide das Miserere probten. Ich baute ständig Mist. Ich sang gerade die berühmte Solostimme. Kennen Sie das Stück?«
»Ich kenne es. Ich bin selbst Musiker.«
»Super. Also gut, ich sang und baute Mist. Götz bat mich, wieder anzufangen. Er wurde immer nervöser. Unentwegt schaute er zur Orgelempore, als ob sich jemand im Schatten versteckt hätte. Ein Mann, der gekommen war, um mir zuzuhören, verstehen Sie?«
»Ich verstehe.«
»Götz’ Verhalten war so seltsam. Einerseits regten ihn meine Patzer auf, andererseits schien er erleichtert darüber. Als ob ich im Begriff sei, bei einem Casting durchzufallen, und er sich darüber freute. Das ist die Schlussfolgerung, die ich heute daraus ziehe.«
Ein Menschen- oder vielmehr »Stimmenfresser«, der sich von bestimmten Klängen ganz besonders angezogen fühlte. Von der Melodie des Miserere .
Mazoyer sprach laut aus, was Volokine im Stillen dachte:
»Heute weiß ich, dass ich damals glücklich davongekommen bin. Darum hat Götz geweint. Vor Rührung. Vielleicht auch aus Freude. Ich hatte die Probe verpatzt, aber mein Leben gerettet. Ironie des Schicksals: Als wir danach das Miserere aufnahmen, habe ich fehlerfrei gesungen. Aber die Gefahr war vorüber …«
Volokine ordnete seine Gedanken. El Ogro existierte wirklich. Wilhelm Götz, der Chorleiter, war sein Schlepper.
Nach ein paar Sekunden fuhr der Automechaniker fort:
»Ich weiß nicht, ob es da einen Zusammenhang gibt, aber im Jahr darauf passierte die Geschichte mit Jacquet.«
»Was für eine Geschichte?«
»Nicolas Jacquet. Ein Junge aus unserem Chor, der 1990 verschwunden ist.«
»Wie bitte?«
»Er ist nie wieder aufgetaucht. Ich erinnere mich an die Polizisten, an das Verhör, die
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