Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
eine wunderschöne Kreidezeichnung auf einer Staffelei. Es war eine Taube, ganz in Grautönen. Wir unterhielten uns gleich ganz angeregt über ihre Arbeit als Künstlerin, über mein Buch, über alles Mögliche, und irgendwann frage ich: „Was hast du im Kühlschrank?“
Ohne die Antwort abzuwarten, reiße ich die Kühlschranktür auf. Und was sehe ich? Eine tote Taube. Ich fand das geil, aber Anna wurde knallrot und stammelte. Dass sie ihre Polaroidkamera nicht dabei habe und den Kadaver zum Zeichnen brauche. „Bitte denk jetzt nicht, ich bin verrückt“, sagte sie. Und ich: „Doch!“
Anna war eine sanfte, gütige Person. Eine schöne, zierliche blonde Frau. Und dabei gar nicht bieder. Ich mochte vor allem an ihr, dass sie immer schick und dennoch lässig aussah. Ihre Haare hatte sie in Stufen geschnitten, und wenn sie sich schnell für einen feierlichen Zweck herrichten musste, reichten ihr ein paar Heißwickler. Nach 20 Minuten saß die Frisur perfekt.
Sie war eine echte Persönlichkeit, und das war auch gut so, denn wie jeder starke Mann war Daniel nicht einfach. Jeder starke Mann braucht eine noch stärkere Frau. Anna war genau das, sie ließ sich nie auf seine Launen und seine Ängste ein, sondern schaffte es immer wieder, ihn aufzufangen. Sie war nie verbittert, dass er ständig in die Arbeit vertieft war, sie hatte ihre eigene. Sie malte viele Stillleben, Aktbilder und war unglaublich gut mit der Kamera. Sie hat zu dieser Zeit wie verrückt Porträts mit der Kamera gemacht, beeindruckende Fotos, die ganze Biografien erzählten. Ich habe Anna dazu ermuntert, ihre Polaroids in einem Buch zu veröffentlichen. Auch von mir ist ein Foto in dem Band. Sie machte es an diesem ersten Tag, an dem wir uns kennenlernten. Ich wog damals 53 Kilo und hatte eine riesige Dogge bei mir: Beate, eine Bullmastiff-Hündin.
Auf diesem Foto habe ich den Hund an der einen Hand, in der anderen einen Kaffee und stehe da in diesen komischen amerikanischen Klamotten mit Streifen und Fransen. Die hatte ich mir zugelegt, als wir zur Promotiontour für den Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ in den USA waren.
Es hat sich dann einfach so ergeben, dass ich bei der Familie Keel wohnen blieb, als ich sie ein paar Monate später in der Schweiz besuchte. Sie lebten selbst noch zur Miete in der Eleonorenstraße, in einem alten Reihenhaus mit drei Stockwerken und engen Stiegen. Nichts Pompöses, keine Rosenstöcke, kein Gärtner, viele Kunstwerke, viele Bücher und überall Papierstapel.
Man hörte immer mal wieder Bahngebimmel und Kuhglocken und eine alte Dame, die von oben unterm Dachstuhl schimpfte: „Seid mal nicht so laut!“ Das war die Vermieterin, eine alte, griesgrämige Frau, die nicht Romane von Diogenes, sondern die Bibel las. Sie war genervt, wenn ich abends beim Essen wieder zu hitzig meine Geschichten erzählte und alle lauthals lachten. Die ganze Familie mochte das sehr: „Christiane, erzähl doch mal was von Berlin.“ Die reichen Leute langweilen sich ja oft echt zu Tode: „Bitte was Verrücktes.“
Ich war nicht der erste Gast, der in dem Haus leben durfte, als sei es sein eigenes Heim. In den Jahren des Prager Frühlings musste der jüngere Sohn Philipp, der damals noch ein Kleinkind war, in der Badewanne schlafen, weil die Keels so viele Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei aufgenommen hatten. Alles Autoren, Oppositionelle. Er wohnte noch bei den Eltern, als ich da war. Jakob, genannt „Köbi“ war mit 18 Jahren, also kurz vorher, ausgezogen; ich bekam sein ehemaliges Zimmer. Außer uns gab es noch Carmelina, eine italienische Haushälterin, die ich mehr mochte als ihr Essen. Sie war keine besonders gute Küchenchefin, aber eine herzensgute, fröhliche Frau Mitte Vierzig, die praktisch zur Familie gehörte.
Anna war geborene Chemnitzerin. Sie hat Daniel in den Sechzigerjahren geheiratet und die DDR nicht miterlebt. Es gibt Fotos von ihr, wie sie mit Anfang zwanzig mit ihrem VW-Käfer unterwegs ist, die Kladden hinten auf der Rückbank, immer ein strahlender Mensch, einfach nur süß und niedlich. Als sie mir die Bilder zeigte, erzählte sie, wie sie dem Daniel einmal nach einem Streit mit ihrem Käfer einfach davongefahren war. Sie hatten sich über ihre gemeinsame Liebe zum Malen kennengelernt.
Er hatte kein Talent als Künstler und sich deshalb irgendwann denen gewidmet, die es besser konnten: Er war aber der Beste, wenn es darum ging, das Beste aus den Schriftstellern herauszuholen. Anna
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