Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)
aufnehmen.
Aber auch das hätte ich lieber getan, als zurück nach Teltow zu gehen.
Lieber schlafe ich im Regen draußen oder stehe nachts am Bahnhof oder gehe zur Mission als wieder nach Hause. Auch weil ich dort so allein bin. Ich habe Angst vor dem Alleinsein.
Manchmal fahre ich mit Felix zusammen raus nach Teltow, um Wäsche zu waschen. Er ist ein sehr gutmütiger Mensch, er würde niemals Geld von mir annehmen, geschweige denn einfordern. Er ist anders als die meisten.
Dafür lasse ich ihn nicht nur bei mir sein Zeugs waschen, sondern ab und zu auch im sauberen Bett übernachten. Selbst wenn ich neben ihm kaum schlafen kann, weil er die ganze Nacht stöhnt. Er hat irgendein Trauma, darüber spricht er aber nicht, und ich habe mich bislang auch noch nicht getraut zu fragen.
Er wälzt sich jede Nacht von links nachts rechts, darum schlafe ich auch auf der Bettseite zur Wand hin, er würde mich sonst rauswerfen. Etwas nimmt ihn sehr mit, irgendwas Hartes verarbeitet er. Er tut mir leid.
In seinem Heim gibt es vier Stockwerke mit jeweils acht Zimmern. Links neben dem Eingang ist eine kleine Küchenzeile mit zwei Platten und einem ganz schlimm verschimmelten PVC-Boden, altem Linoleum mit Brandflecken und dicken, zertretenen Kaugummis.
Männer und Frauen leben dort gemischt, die meisten beziehen Hartz IV, sind aber schon am Zehnten jedes Monats vollkommen pleite. Dann geht das große Schnorren los. Aber ich will gar nicht über sie herziehen, viele sind sehr nett. Es ist nur so, dass ich niemals leben könnte wie sie.
Dafür, dass ich dort leben durfte, kochte ich jeden Tag. Einfache Speisen nur, wie Kartoffeln mit Butter, Nudeln mit Tomatensoße. Oder ich brachte einfach einen riesigen Grill-Teller vom Imbiss mit.
Man glaubt gar nicht, wie schnell das weggefuttert ist. Leider haben die meisten insgesamt kein Gefühl für ein gesundes Maß. Das liegt einfach daran, dass sie Normen nie kennengelernt haben. Die meisten von ihnen hatten immer auf irgendeine Art zu viel oder zu wenig von allem: zu wenig Aufmerksamkeit der Mutter, zu viel körperliche Zuneigung des neuen Freundes der Mutter; zu wenig Schutz vor den Problemen der Eltern, zu viel innere Leere; zu viele schlechte Vorbilder, zu wenig Chancen, es besser zu machen; zu wenig Geld, um in einem Verein mit den anderen Kindern zu spielen, oder zu viel Geld, aus dessen Umklammerung man sich nur durch Rebellion befreien konnte.
Zum Beispiel Bernd. Er ist ein guter Freund seit 20 Jahren. Ein kleiner, dürrer Kerl, unscheinbar, aber immer mit den schönsten Frauen an seiner Seite. Warum? Weil er schlau ist und charmant, weil er den Knigge kennt, so wurde er erzogen. Und weil er innen super weich ist wie ein Weib. Ein echter Romantiker, insgesamt eine Mischung, die viele Frauen eben gut finden, auch wenn er ein Fixer ist.
Kürzlich habe ich ihn dabei erwischt, wie er seine Spritze über dem Geschirr bei Felix ausgespült hat. Aber das will ich einfach nicht. Das ist unhygienisch, wir sind doch keine Kinder mehr. Blut ist Blut und unter Umständen infektiös. Selbst wenn es blau ist.
Bernd ist nämlich adlig, aber das erzählt er fast keinem, weil er damit schlechte Erinnerungen verbindet. Er wurde mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, doch er zog den Kochlöffel mit dem H vor, weil er sich unmündig und unfrei und ungeliebt fühlte. Wir haben alle verstanden, was er meinte, als einmal Verwandte aus Cambridge nach Berlin gereist kamen und alle Obdachlosenheime abklapperten, um ihn zu finden.
Zunächst dachten wir, sie wollten ihm helfen. Doch dann erzählten sie, dass er eine Schande für die Familie sei, ein Übel, um das man sich kümmern müsse. Er ist vor ihnen abgehauen, und wir haben ihm geholfen, sich zu verstecken. Ein paar Tage hat er bei mir in Teltow gelebt.
Jetzt lebt er auf der Straße oder wie ich bei Felix. Dabei hat er ein Studium als Kommunikationswissenschaftler abgeschlossen und jahrelang bei einer großen deutschen Firma gearbeitet – aber irgendwann interessierte ihn nur noch der Stoff.
Ich mache mir wirklich große Sorgen um ihn, denn er geht gar nicht mehr duschen, und während ich alles sauber mache, dreckt er alles ein. Seine Zigarettenstummel stecken überall, in den leeren Blumentöpfen, in denen die Erde schon schimmelt, in aufgebrochenen Konservendosen, in denen einmal Heringsfilet oder Fertiglasagne oder Hühnchencurry war. Alles steht offen da überall rum, höchstens wird einmal Wasser darübergekippt, wenn der
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